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Die Schatten eines Sommers

Die Schatten eines Sommers

Titel: Die Schatten eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lia Norden
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hinter verschlossenen Türen taten.
    Marie hatte ihr Glas bereits geleert und goss sich erneut ein. «Wie hast du dich gefühlt?», fragte sie. «Wo hast du das alles hingepackt, die ganzen Jahre lang?»
    «Weg», antwortete ich spontan. «Ich hab’s weggemacht.»
    «Aber wie? Wie hast du das gemacht?»
    «Wie das jeder macht, oder? Ich hab’s verdrängt. ’ne Zeitlang hab ich mal versucht, es wegzubeten. Hat nicht geklappt.» Ich grinste schief. Es gab nicht mehr zu sagen. Eigentlich. Trotzdem sprach ich weiter. Marie war die Letzte, die mir von damals geblieben war.
    «Dieses Buch war meine Chance, Marie! Ich hab das nicht aus Kalkül, Geldgier oder lauter Jux und Dollerei geschrieben. Es hat mich überfallen – das war wie ein Rausch. Und auch, wenn dich gekränkt hat, was da über dich steht – ich habe nur versucht zu verstehen, warum wir vier so ein boshaftes Ganzes waren.»
    «Boshaft», wiederholte Marie leise. «Ja, das waren wir.»
    Ich erinnerte mich daran, dass es – während ich an meinem Roman schrieb – nur eine einzige Phase gegeben hatte, in der ich unsicher geworden war. Ich hatte über unsere Eltern nachgedacht. Über unsere gemeinsame Sehnsucht nach Anerkennung und Wärme. Dorit war außen vor. Sie litt immer. Unter allem. Ihre Mutter war jung und sorglos gewesen, sie hatte Dorit über alles geliebt, fröhlich und eindeutig. Wie sehr hatte ich Dorit beneidet, um diese greifbare Liebe, die sich in Umarmungen zeigte, in Küssen, in all diesen kleinen unbekümmerten Liebesbekundungen, zu denen meine Mutter nicht in der Lage war. Was ich zu Hause bekam, waren die klugen, toughen Ratschläge eines Coaches.
    Marie war diejenige von uns, die es wirklich schwer hatte. Ihre Mutter bevorzugte Maries Schwester so nachdrücklich und offensichtlich, dass es eine Qual war, es mit anzusehen. Und Maries Vater hatte seiner Frau nichts entgegenzusetzen. Er war derart blass, still und unauffällig, dass man seine Existenz regelmäßig vergaß. Anscheinend war er inzwischen, wahrscheinlich ebenso unbemerkt, verstorben.
    Und Fabienne? Sie hatte nichts als Verachtung für ihre Eltern übriggehabt. «Reich und unglaublich dumm», sagte sie immer wieder. Aber nie ließ sie auch nur ein einziges Wort darüber fallen, was ihr fehlte.
    Unsere Eltern hatten uns bedürftig gemacht. Aber dass wir unseren niederträchtigen Plan tatsächlich verwirklicht hatten, war nicht ihre Schuld gewesen.
    «Ich habe versucht, es beim Schreiben zu verstehen, aber ich habe es nicht verstanden», sagte ich. «Alles, was ich gesehen habe, war, dass wir uns gegenseitig manipuliert haben. Von Anbeginn unserer Freundschaft. Ihr habt mich stark sein lassen, weil ihr selbst euch als schwach empfunden habt, ihr hattet mir nichts entgegenzusetzen. Und überhaupt ließ jede von uns der anderen das ihre: Wir ließen Fabienne ihre Undurchschaubarkeit und Überheblichkeit, Dorit ihre Hysterie und dir dein tapferes Leiden, dein Benutzt-werden-Wollen.»
    «Ich wollte nicht benutzt werden!», protestierte Marie.
    «Doch. Jede von uns hat die anderen für irgendetwas gebraucht. Keine von uns war wirklich souverän.»
    «Du warst souverän», stellte Marie fest.
    «Quatsch. Ich habe versucht, Fabienne zu beeindrucken. Mehr war das nicht. Eigentlich hatte ich Angst vor ihr. Sie hat mich eingeschüchtert. Und dagegen habe ich angekämpft. Ich glaube, sie war ein bisschen verliebt in mich … Das habe ich ausgenutzt.»
    Ich erzählte Marie nicht, wie sehr Fabienne mich getrieben hatte, immer weiter zu gehen, immer neue Grenzen auszutesten. Bis heute hatte ich nicht vergessen, was sie mir damals, in jenem Sommer, gesagt hatte. Sie hatte Sartre gelesen. Wir beide waren allein am See gewesen und hatten nach dem Schwimmen nebeneinander in der Sonne gelegen. Plötzlich hatte sie sich auf die Seite gedreht, ihren Kopf abgestützt und mich intensiv angeblickt. «Wenn es keinen Gott gibt», hatte sie gesagt, «und alle Werte unbestimmt sind – dann bleibt uns nichts anderes, als uns auf unseren Instinkt zu verlassen. Wir sind verurteilt, frei zu sein und Entscheidungen zu treffen. Kannst du das?»
    «Klar», hatte ich geantwortet. «Willst du es jetzt gleich sehen?»
    Sie war aufgesprungen und hatte sich ins Wasser gestürzt.
    Und ich hatte den Rest des Sommers damit verbracht, es ihr zu beweisen. Dass mir die Freiheit keine Furcht einflößte und ich meinem Instinkt vertraute.
    Marie barg das Gesicht in den Händen und schüttelte den Kopf.
    «Ich habe so oft

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