Die Schatten eines Sommers
müde den Kopf. «Über so etwas rede ich nicht, das solltest du wissen. Aber es gibt da tatsächlich etwas, das ich dir erzählen muss. Ich habe gestern bei Wolff etwas entdeckt … Vielleicht hat es auch gar nichts zu bedeuten, aber … Ach egal, lass uns heute Abend darüber sprechen. Meinetwegen auch über Fabienne.»
Hanna nickte erfreut. «Endlich hast du eingesehen, dass ich nicht komplett spinne. Da ist etwas faul, und wir beide werden …»
«Lass gut sein, Hanna», unterbrach ich sie. «Und ich sage dir gleich: Ich spiele heute Abend nur unter einer Bedingung mit dir Holmes und Watson.»
«Und die wäre?»
Ich holte tief Luft. «Dass wir auch über damals reden. Und zwar aufrichtig. Lass dein Diva-Gehabe also bitte im Hotel. Halb neun bei mir?» Ich stand auf. «Keine Sorge, meine Mutter ist beim Bridge. Ich hab – wie nannten wir das früher noch?»
«Äh … Open House?»
«Ganz genau.»
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FABIENNE
Ich hatte mich beherrscht. Hannas anmaßende Arroganz, die sich hinter ihrem falschen Lächeln verbarg … Maries klebrige Freundlichkeit, die nichts anderes als sentimentale Verlogenheit war … Die ganze holsteinische Beklemmung, die das Waldhorn ausströmte … Und dann noch dieser idiotische Mirko, der mir aus purer Bosheit meinen Wagen nicht zurückgab … Ich hatte mich beherrscht. Aber als ich jetzt am Zahlenschloss von Tante Hiltruds Fahrrad herumdrehte und das Schloss nicht aufbekam, dröhnte es so laut in meinen Ohren, dass ich kaum noch denken konnte. Wie war gleich noch diese verdammte Zahlenkombination? Ich zerrte und riss – und endlich sprang das Schloss auf.
Wenige Sekunden später war ich auf der Landstraße und stemmte mich in die Pedale. Der Fahrtwind vermischte sich mit dem Rauschen in meinen Ohren, und im Rhythmus des Tretens drehten sich die Zeilen aus Hiobs Klage in meinem Kopf.
War ich nicht glückselig? War ich nicht fein stille? Hatte ich nicht gute Ruhe? Und es kommt solche Unruhe!
Ich musste nach Hause, nach Hamburg, in mein Arbeitszimmer, in meinen Garten. Ich musste meine Kolumne schreiben und meine Sendung vorbereiten, Fakten recherchieren, Texte schreiben. Herrgott noch mal, ich war nicht vor einem Vierteljahrhundert aus Beerenbök geflüchtet, um jetzt hier festzustecken und mich von Wichtigerem abhalten zu lassen!
Ein, zwei Kilometer fuhr ich ohne Ziel drauflos, bis ich merkte, dass ich wieder auf dem Weg zum See war. Dieser verdammte See, an dem wir unseren Sommer verbracht hatten! Was hatte ich damals als Wunsch aufgeschrieben und unter den Feenstein gelegt? Hanna hatte versucht, mir über die Schulter zu schauen, aber ich hatte sie weggestoßen. Ja … ich wusste es noch genau: Mehr als alles andere hatte ich mir Erkenntnis gewünscht. Erkenntnis darüber, wie das Leben entstanden ist und warum das Weltall niemals endet, und darüber, ob es nur diese eine Welt gibt und ob wir Menschen ein Ziel im Leben haben oder einfach nur aus einem Zufall heraus geboren werden, um irgendwann genauso zufällig zu sterben. All diese Fragen hatten in mir gebrannt, während ich ahnte, was die anderen in ihren Briefen festhielten. Nichts anderes als alltägliche Jungmädchenträume: einen tollen Mann, ein Haus, ein paar niedliche Kinder, einen aufregenden Beruf.
Ich musste plötzlich lachen und hielt mit klopfendem Herzen und nach Atem ringend am Straßenrand an. Was für banale Träume – und einige davon waren wahr geworden: Marie lebte mit Mann und Kind im Eigenheim, Hanna hatte Erfolg im Beruf. Und Dorit, die arme Dorit? Nur sie hatte keinen einzigen ihrer Wünsche erfüllt bekommen.
Wieder stieg ein bitteres Lachen in mir auf, und ich schaute in Richtung des Sees, der von der Straße aus nicht zu sehen war. Der See, der so gut versteckt war, dass man dort in Ruhe seine Träume träumen konnte.
Während ich über meinen Lenker gebeugt darauf wartete, dass sich mein Herzschlag beruhigte, wünschte ich mir, dieser kleine übereifrige Dorfpolizist hätte das Boot nicht abholen lassen. Wie schön wäre es gewesen, jetzt auf den See hinauszufahren und sich treiben zu lassen. Ich war so müde nach der letzten Nacht, in der ich keinen Schlaf bekommen hatte. Es gab nur eins, was ich jetzt tun konnte. Ich würde zum Haus meiner Tante fahren, mich ins Dachzimmer zurückziehen, mir meinen Schlaf holen und das Rauschen und Dröhnen in meinem Kopf bezwingen. Eine halbe Stunde nur ein wenig Kraft und klare Gedanken tanken. Dann würde ich wieder hellsichtig genug
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