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Die Schatten eines Sommers

Die Schatten eines Sommers

Titel: Die Schatten eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lia Norden
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zum Abendessen kommen. Wir fühlten uns geehrt. Es war etwas sehr Besonderes, diese Einladung. Indisch war ungewöhnlich, Freunde zu bekochen war ungewöhnlich, und dass wir überhaupt kommen durften, glich einem Wunder. Wir trafen uns ungemein selten bei Fabienne. In all den Jahren war ich nicht mehr als zwei-, dreimal bei ihr zu Hause gewesen.
    Das Haus ihrer Eltern war ein Neubau, der größte im Dorf. Er atmete Reichtum und war mit teuren Scheußlichkeiten eingerichtet und dekoriert. Als Fabienne uns die Tür öffnete, wehte uns ein exotischer Duft nach Kokos und geheimnisvollen Gewürzen entgegen. Fabienne sah entspannt und für ihre Verhältnisse glücklich aus. Wir hatten uns sehr bemüht, wegen des Geschenks für sie. Wir hatten großzügig zusammengelegt, und ich war weit gefahren, um in dem damals einzigen Bioladen Schleswig-Holsteins jede Menge sonderbare, vegetarische Aufstriche zu kaufen, dazu furchterregende Körnermischungen, indische Räucherstäbchen und aromatisierte Tees. Fabienne strahlte tatsächlich, während sie alles auspackte.
    Als wir am Esszimmertisch saßen, neben der Statue eines lebensgroßen Mohren unter einer goldfarbenen Palme, trugen Fabienne und ihre Mutter mehrere Schüsseln herein. Kichererbsen in Kokossoße, Safranreis, Gemüsecurry, Fladenbrote und verschiedene selbstgemachte Dips.
    Kurz nachdem wir andächtig zu essen begonnen hatten, klingelte es an der Haustür. Wenige Minuten später balancierte Fabiennes Mutter eine große Silberplatte zu uns herein.
    «Will gar nicht stören!», trällerte sie. «Das war der Schlachter eben. Fabienne, ich habe mir gedacht … Vielleicht mögen deine Gäste ja doch zu dem ganzen Gemüse noch was Deftiges dazu …»
    Fabienne starrte sie entgeistert an.
    «Schlachtplatte!», frohlockte ihre Mutter. «Schlachtplatte!»
    Fabienne stand auf, sehr langsam, und nahm ihrer Mutter die Platte ab. Sie warf einen Blick auf die Rippchen, die Blut- und Leberwürste, das gekochte Fleisch, das Sauerkraut, aus dem Speckwürfel hervorlugten, und das vor Butter glänzende Kartoffelpüree.
    «Danke», sagte sie gefasst. «Vielen Dank.»
    Die Würste rutschten zuerst von der Platte, als Fabienne sie behutsam schräg zu halten begann. Danach glitt das Kochfleisch in seinem Saft hinab, bevor das Kraut über die Rippchen auf den Perserteppich stürzte.
    «Fabienne!», schrie ihre Mutter entsetzt. «Fabienne!»
    Wir saßen still und stumm, wie erstarrt. Fabienne wirkte sehr konzentriert, als sie dem Püree noch einen kleinen Stups gab, damit es in Bewegung kam. Dann übergab sie ihrer Mutter die leere Platte und atmete tief durch.
    «Vielen Dank», sagte sie gefasst. «Wirklich. Sehr aufmerksam von dir.»

[zur Inhaltsübersicht]
    MARIE
    Eine Weile waren Fabienne und ich uns damals nahe gewesen. Nicht lange, ein paar Frühlingswochen nur, dann war es schon wieder vorbei gewesen mit dem Glück. Ja, ich hatte es als beglückend empfunden, dass Fabienne plötzlich Wert auf meine Gesellschaft zu legen schien. Meistens kam sie gegen Abend bei mir vorbei, um mich zu einem Spaziergang abzuholen.
    «Hast du Zeit?»
    Ich hatte. Immer. Auch wenn es eigentlich nicht stimmte. Rasch, bevor meine Mutter irgendwelche Einwände erheben konnte, nahm ich meine Jacke vom Haken und schlüpfte nach draußen. Meistens gingen wir Richtung See. Dort setzten wir uns nebeneinander auf eine Bank, schauten aufs Wasser und ließen Steinchen springen. Auf diese Weise mussten wir uns nicht in die Augen sehen, was manche Gespräche erleichterte.
    Ja, ich hatte diese Stunden allein mit Fabienne genossen. Einfach, weil Fabienne anders gewesen war als Hanna, die ich ohnehin immer ein bisschen fürchtete. Aber auch anders als Dorit, die im Grunde immer nur über sich selbst reden wollte. Manchmal war es wirklich nicht zum Aushalten gewesen! Jedes, wirklich jedes Gespräch mit Dorit kreiste um sie: ihre Probleme, ihr Aussehen, ihre Zukunft, ihre Eltern … Ich konnte mich kaum daran erinnern, dass wir mal über mein Leben und meine Zukunft gesprochen hätten.
    Mit Fabienne war es anders. Unsere Gespräche drehten sich nicht um Aussehen, Jungs und Schulprobleme, sondern um wirklich Wichtiges. Um Gut und Böse, um Glauben und Gerechtigkeit, um das ganze Leben eben. In Fabiennes Nähe fühlte ich mich zum ersten Mal klug und nachdenklich. Meine Meinung schien sie wirklich zu interessieren, es hatte so unendlich gutgetan. Bis es eines Tages zu Ende war. Nie hatte ich wirklich verstanden, was ich damals

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