Die Schatten eines Sommers
Detektivspiel zurückkehren.
«Nehmen wir mal an, Dorit hat Fabienne tatsächlich angerufen. So, wie sie es dir in eurem Telefonat angekündigt hat. Dann wird Dorit ihr nichts anderes gesagt haben als uns auch, oder? Dass sie alles publik machen will. Wie hat Fabienne wohl darauf reagiert?»
Seltsam, darüber hatte ich bisher noch gar nicht nachgedacht. Auch hier hatte ich immer nur meine eigene Situation im Blick gehabt.
«Na ja», sagte ich langsam. «Ich denke, als Seelsorgerin hätte sie Dorits Wunsch verstanden und vermutlich unterstützt. Schließlich hätte es tatsächlich eine Art Befreiung für Dorit werden können. Aber als Privatperson, also als Betroffene …» Ich überlegte. «Da war sie sicher nicht scharf darauf, dass ihre Rolle in dieser Geschichte öffentlich wird. Gerade für sie als Pastorin hängt doch die moralische Messlatte verdammt hoch. Denk doch nur mal an diese Bischöfin, die zurückgetreten ist, weil sie nachts alkoholisiert über eine rote Ampel gefahren ist. Mit Sicherheit hätte sich das Bekanntwerden unserer Geschichte ziemlich fatal auf Fabiennes Karriere ausgewirkt, zumal jetzt, kurz bevor es mit ihrer TV -Talkshow losgeht.»
«Eben.» Hanna sah mich an. «Die wär dann gar nicht erst auf Sendung gegangen.»
«Wie meinst du das?»
Hanna sah mich an, als sei ich begriffsstutzig. «Na, die Talkshow! Wenn unsere Geschichte rausgekommen wäre, hätte der Sender die sofort wieder abgesetzt. Oder jemand anderen an Fabiennes Stelle gebracht. Und mit ihrer Kolumne wäre es nicht anders – entweder eingestellt, oder aber ein Neuer übernimmt. Ziemlich hart, was? Im besten Fall wäre Fabienne ruck, zuck wieder eine einfache Pastorin gewesen, mit Altenheimbesuchen, angeödeten Konfirmanden und einer leeren Kirche am Sonntag.»
Ich schüttelte den Kopf. «Und dagegen hätte Fabienne gar nichts tun können?»
«Nun, vielleicht hat sie das ja.»
«Was?»
«Etwas getan.»
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FABIENNE
Es musste die Hitze gewesen sein, die sich in Tante Hiltruds Dachzimmer staute. Als ich aufwachte, lag ich wie betäubt in meiner schweißnassen Unterwäsche und versuchte die bleierne Schwere zu überwinden, die mich am Aufstehen hinderte. Aber ich schaffte es nicht. Immer wieder sank ich in einen Dämmerschlaf, aus dem ich jedes Mal nur noch benommener hochschreckte. Mein Herz schlug dumpf, und ich konnte fühlen, wie mir das Blut in den Schläfen pulsierte. Von unten aus der Diele drang verschwommen die Stimme meiner Tante nach oben. Ich hörte meinen Namen, ich hörte ihn noch mal, hörte die Tür ins Schloss fallen, ich hörte den Wagen meiner Tante, der über den Kiesweg rollte. Dann senkte sich wieder die Stille Beerenböks über das Haus, und ich sank erneut in die Bewusstlosigkeit, in die sich Bilder eines wirren Traums mischten.
Das Jaulen eines Motorrads riss mich aus dem Schlaf. Ein lautes, böses Kreischen, das meinen Puls hochjagte und mein Herz ins Stolpern brachte. Immerhin schaffte ich es, den Kopf zu heben, um auf die Uhr zu schauen, die über der Tür hing.
Es war halb neun Uhr abends … Konnte das sein? Hatte ich wirklich den ganzen Tag verschlafen? Durch den Leinenvorhang vor dem Gaubenfenster fiel das Sonnenlicht schräg auf die staubigen Dielen. Meine Kehle war so trocken, dass ich kaum schlucken konnte, und ich spürte nagenden Hunger. Wie hatte ich nur Stunden um Stunden in dieser dumpfen Hitze liegen können? Ich musste die Kraft finden, endlich aufzustehen. Es gab Dinge zu tun. Ganz plötzlich wusste ich es wieder, so klar und sicher wie meinen eigenen Namen. Während ich schwer und regungslos zwischen den Laken gelegen hatte, musste sich in mir bereits das Wissen geformt haben, was dieser Abend von mir verlangte.
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HANNA
Kurz vor ihrem fünfzehnten Geburtstag hatte Fabienne beschlossen, Vegetarierin zu werden. Es war nicht Mainstream gewesen, sich Anfang der achtziger Jahre fleischlos zu ernähren, es war etwas Neues, Politisches, Radikales.
Fabienne hatte es uns sehr nüchtern mitgeteilt, an einem Grillabend bei Marie im Garten, und es war völlig klar, dass sie keine Diskussion darüber wünschte. Also gab es auch keine.
Wenige Tage später waren Marie, Dorit und ich bei ihr eingeladen. Es war eine sehr kurzfristige, ungewöhnliche Einladung gewesen, denn normalerweise feierte Fabienne ihren Geburtstag nicht. Sie hatte uns erst am Morgen Bescheid gesagt. Sie hatte spontan Lust bekommen, indisch zu kochen, und wir sollten
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