Die Schatten eines Sommers
gedacht, ich sollte mich entschuldigen», sagte sie leise. «Bei Dorits Mutter. Aber das ist egoistisch. Man kann ihr nicht auch noch auflasten, uns zu verzeihen.»
Ich nickte. «Dorit wollte es trotzdem. Sie wollte es wirklich tun. Es allen erzählen, allen.»
«Ja», sagte Marie. «Ich weiß.»
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MARIE
Es war eine ganz neue Erfahrung, halbwegs entspannt neben Hanna zu sitzen. Mit ihr allein hatte ich mich nie wirklich wohl gefühlt. Damals war ich immer hin und her gerissen gewesen von dem Wunsch, genauso witzig, attraktiv und selbstbewusst zu sein wie sie und gleichzeitig voller unterdrückter Wut, auf Hanna und auf mich selbst, weil ich wusste, dass diese Anstrengung keinerlei Aussicht auf Erfolg hatte.
Jetzt war es anders. Hanna schien wirklich bemüht, aufrichtig zu sein. Jedenfalls, so weit ihr das möglich war. Dass sie die meiste Zeit versucht hatte, ihre Schuldgefühle zu verdrängen, anstatt sich wie ich damit zu quälen, konnte ich ihr kaum vorwerfen. Wenn man ehrlich war, hatten meine heftigen Schuldgefühle doch auch niemandem genützt. Dorit nicht, und ihrer Mutter auch nicht. Im Gegenteil: Als Dorit sich bei mir meldete, nachdem sie Hannas Buch gelesen hatte – wild entschlossen, unsere Geschichte publik zu machen, um sich endlich davon zu befreien –, hatte ich sie mit aller Kraft davon abgehalten.
«Ich habe nur an mich selbst gedacht», gestand ich Hanna. «Jahrelang habe ich mir vorgemacht, wenn es nur eine winzige Möglichkeit gäbe, die Ereignisse von damals wiedergutzumachen, wenigstens ein bisschen, dann wäre ich froh und dankbar, würde keine Sekunde zögern …» Ich sah Hanna an. «Und als Dorit dann tatsächlich anrief, war mein einziger Gedanke: Um Gottes willen, wie kann ich sie davon abhalten, mein Leben zu zerstören?» Ich schüttelte den Kopf. «Unglaublich, oder? Alles andere spielte keine Rolle. Mit meinen hehren Sühnegedanken hatte ich jahrelang nur mein Gewissen beruhigt, so sieht’s aus …» Ich schwieg.
Hanna schenkte uns beiden Wein nach. Erstaunlich, dass ich schon wieder trinken konnte. Aber dieses Gespräch verlangte wohl nach Alkohol. In gewisser Weise konnte ich sogar verstehen, dass Hannas Roman auch eine Art Befreiungsschlag gewesen war. Es war eben ihre Form, damit fertigzuwerden. Nur, dass sie uns andere da zwangsläufig mit hineingezogen hatte.
Ich musterte Hanna von der Seite. Wie gut sie noch immer aussah! Vielleicht ein bisschen verlebt, aber das tat ihrer Attraktivität keinen Abbruch, im Gegenteil. Es machte sie eher noch interessanter. Ob Fabienne wirklich einmal in sie verliebt gewesen war? Und wenn ja: Ob zwischen den beiden etwas gelaufen war? Ich überlegte kurz, ob ich Hanna danach fragen sollte. Ich war sicher, sie würde ohne zu zögern antworten. Ach nein, ich wollte es gar nicht wissen. Hanna hatte recht, all die unseligen Verstrickungen zwischen uns hatten das Böse damals erst möglich gemacht. Wir waren einander viel zu viel gewesen: Spiegel des erwachenden Selbst, engste Vertraute, eifersüchtig einander beäugende Konkurrentinnen – und unfähig, mit unserer neuen Macht umzugehen.
«Was meinst du», fragte ich nach einer Weile. «Wie hat Fabienne wohl ihre Schuldgefühle verarbeitet? Mit ihrem Glauben?»
Hanna zuckte die Schultern. «Keine Ahnung. Ich weiß es wirklich nicht.» Sie überlegte. «Ich finde sowieso, die Fabienne von damals, die ist kaum noch greifbar, immer nur für kurze, flüchtige Momente. Ehe man sichs versieht, hat sie schon wieder diese Pastorinnenmaske auf. Diese plötzlichen Wechsel, die sind … echt seltsam, oder?»
«Vielleicht wird man ja so, in dem Beruf?»
«Ich glaub das nicht!» Hanna schüttelte den Kopf. «Aber okay, sind wir mal nett und nehmen an, sie hat einen Pastorenknall und muss sich schützen. Vor der alten Fabienne, die in ihr schlummert, vor uns, vor der Vergangenheit. Sie will und darf das alles nicht mehr an sich heranlassen. Wäre schräg, aber egal. Und diese Sache mit der rausgerissenen Kalenderwoche … Ich meine, da gibt es tausend Gründe, warum man so was macht. Vielleicht stand da einfach eine Adresse, die sie eilig brauchte, oder was auch immer.»
Ich war erleichtert über Hannas Verständnis für Fabienne, über die harmlosen Erklärungen für ihr Verhalten. Aber Hanna war noch nicht fertig.
«Andererseits …», fuhr sie fort.
Ich seufzte. Alles klar, jetzt war also der tiefsinnige Teil unseres Gesprächs vorbei, und Hanna wollte zu ihrem
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