Die Schatten eines Sommers
falsch gemacht oder wodurch ich sie verletzt hatte. Ich weiß nur noch, dass unserer Entfremdung ein heftiger Konflikt mit meiner Mutter vorangegangen war. Wieder einmal hatte ich mich verletzt und zurückgesetzt gefühlt. Wieder einmal hatte ich schmerzlich zu spüren bekommen, dass Katharina für meine Eltern, vor allem für meine Mutter, so viel wichtiger war als ich. Wochen zuvor hatten meine Eltern mir versprochen, eine Aufführung unseres Schülertheaters zu besuchen, in der ich eine kleine, aber wichtige Rolle spielte. So ein öffentlicher Auftritt fiel mir nicht leicht. Tagelang hatte ich kaum schlafen können vor Aufregung, gleichzeitig brannte ich darauf, meinen Eltern zu zeigen, was ich konnte. Aber dann war Katharina überraschend ins Finale irgendeines Tennisturniers gelangt. Und sofort war klar gewesen, dass meine Eltern natürlich zu Katharinas Tennisspiel fahren würden, anstatt zu meiner Aufführung. Als Fabienne mich an jenem Abend abholte, hatte ich rotgeweinte Augen. Sie sah mich ganz ruhig an: «Warum bist du nur so abhängig von der Anerkennung deiner Mutter, Marie? Du bist hundertmal mehr wert als sie, erkennst du das denn nicht?»
«Doch, schon», hatte ich beschämt geflüstert, «aber ich möchte doch nur, dass sie mich wenigstens ein einziges Mal …»
Fabienne hatte den Kopf geschüttelt. «Was würde das denn ändern? Vergiss deine Mutter! Du vergeudest damit viel zu viel Kraft. Lass sie einfach reden. Wenn sie wieder von der göttlichen Katharina spricht, schalte doch auf Durchzug. Ich verrate dir einen Trick: Du musst einfach innerlich summen, wenn sie damit anfängt.»
Irritiert hatte ich Fabienne angesehen. «Summen?»
«Ja, so mache ich das auch. Es hilft, sich innerlich zu wappnen und vor äußeren Einflüssen zu schützen. Probier es mal aus!»
«Summen … hmmm.» Ich kicherte unsicher. «Also, ich weiß ja nicht. Meinst du nicht, ich sollte vielleicht lieber noch mal versuchen, mit Mama zu reden? Wenn ich ihr erkläre, wie wichtig …»
Während ich sprach, meinte ich in Fabiennes Blick eine Spur von Verachtung zu lesen. Sie wandte sich ab, und während wir schweigend nebeneinanderher nach Hause gingen, wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie innerlich summte. Es war unser letzter Spaziergang zu zweit gewesen.
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FABIENNE
Ich wischte mir mit dem Betttuch den klebrigen Schweiß vom Gesicht und stand auf. Mir war so schwindelig, dass ich mich auf dem Weg zum Badezimmer am Treppengeländer festhalten musste, um nicht zu schwanken. Erst als ich unter der Dusche stand und mir das Wasser in den Nacken prasselte, bekam ich wieder einen klaren Kopf. Ich duschte kalt und heiß und wieder kalt. Dann rieb ich mich mit den alten, vom jahrzehntelangen Waschen dünn gewordenen Handtüchern meiner Tante trocken, bis mir die Haut brannte. Es gab Dinge zu tun, und jetzt hatte ich die Kraft, sie anzupacken.
Doch es war noch zu früh am Abend. Ich musste noch ein paar Stunden warten, auch wenn es in dieser Jahreszeit so gut wie nie wirklich dunkel wurde. Aber ich wusste, dass die Beerenböker sich trotzdem an die Regeln hielten – spätestens ab dreiundzwanzig Uhr waren die Straßen im Dorf wie ausgestorben. Auch Tante Hiltrud würde dann von ihrem Bridge-Abend zurück sein und ins Bett gehen. Christian konnte nicht vor Mitternacht aus Lübeck zurück sein – ich hatte also fast eine ganze Stunde Zeit.
Ich bereitete mir in der Küche ein deftiges Abendessen mit Vollkornbrot und Schinken zu, trank einen halben Liter Wasser und ein Bier und schrieb dann meiner Tante einen kurzen Abschiedsbrief, den ich ihr am Morgen auf den Küchentisch legen würde. Ich hatte nicht vor, so lange zu bleiben, bis sie wach wurde. Sonntags schlief sie aus, während ich um Punkt neun bei der Werkstatt sein würde, um meinen Wagen abzuholen und Mirkos Schrauber einen anständigen Lohn inklusive Wochenendzuschlag zu zahlen. Zu einem späten Frühstück konnte ich bereits wieder zu Hause auf meiner Terrasse in Hamburg sein.
Ich musste in der zunehmenden Dunkelheit meines Zimmers nicht allzu lange warten, bis ich den Wagen meiner Tante hörte. Keine Stunde mehr, dann würde sie im Bett liegen und tief und fest schlafen, genauso wie alle anderen Beerenböker. Für mich würde es keine verlorene Stunde sein – auch wenn ich nicht wagte, meinen Laptop einzuschalten, um Tante Hiltrud keinen Grund zu geben, nach mir zu schauen. Das ist das Gute an meinem Beruf. Ich kann immer arbeiten, egal,
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