Die Schatten schlafen nur
beben, ein Lärm schwoll an, so ungeheuer, so unerträglich, dass van Appeldorn sich flach auf den Boden fallen ließ. Toppe hielt sich lediglich an der Tanksäule fest. »Lohhausen«, brüllte er dem panischen van Appeldorn zu und zeigte nach oben. An der Maschine wurden gerade die Räder eingefahren. »Wir stehen unter der Ausflugschneise.«
Das Altersheim in Kalkum, nicht in Kaiserswerth, wie sie geglaubt hatten, überraschte sie beide: kleine Bungalows mit je vier Wohneinheiten, bestehend aus zwei Zimmern und einem geräumigen Bad, mitten in einem weiten, alten Parkgelände gelegen, durch das ein romantisch murmelnder Bach floss. Ein gut zu erreichendes Hauptgebäude mit Küchen- und Versorgungstrakt im Kellergeschoss, Essraum, Fernsehzimmer, Bibliothek, Gymnastikhalle, etlichen anderen Räumen für unterschiedlichste Aktivitäten, einem Zimmer mit Kartentischen, einem Studio, in dem Märchenkassetten für Kinder besprochen wurden.
Die Heimleiterin erwartete sie schon, hielt sich aber nicht mit unnötigem Geplänkel auf. »Darf ich Sie mit Frau Senger bekannt machen? Sie betreut die Wohneinheit, in der Herr Froriep lebt.«
»Sie haben pro Wohneinheit eine Betreuung?« Toppe staunte noch mehr.
»Ja, selbstverständlich.«
»Ich will nicht indiskret sein«, meinte van Appeldorn, »aber wie viel kostet ein Platz bei Ihnen?«
»Zwischen 7.800 und 12.000 im Monat, je nach Pflegebedürftigkeit.«
Gisela Senger war das, was man vor fünfzig Jahren ein ›patentes Mädel‹ genannt hätte, eine unkomplizierte Frau mit rotblondem Pferdehaar und extrem großen Füßen.
»Herr Froriep?« Sie klang nicht glücklich. »Ich bringe Sie zu ihm, aber.« Dabei winkte sie ihnen, ihr zu folgen.
»Aber?«, hakte Toppe nach.
»Er hat einen sehr schlechten Tag.« Ihre helle Haut war mit Sommersprossen übersät. »Herr Froriep ist 98 Jahre alt, aber das wissen Sie wahrscheinlich. In den letzten Monaten hat er ziemlich abgebaut. Kommen Sie einfach mit. Ich habe ihm schon gesagt, dass Sie ihn besuchen wollen.«
Robert Froriep saß in einem Ohrensessel an einem Fenster, das zu einer kleinen, mit Blumenkübeln geschmückten Terrasse hinausging, und wusste anscheinend nicht einmal mehr, wer er selbst war. Ein Bündel Mensch. Seine trüben Augen geisterten irgendwo im Nichts herum. Ein zitternder Greis, von dem man sich auch mit dem besten Willen nicht mehr vorstellen konnte, dass er einmal jung gewesen war.
»Herr Froriep«, rief Frau Senger und griff nach seiner Hand, aber da kam keinerlei Reaktion.
Toppe schnupperte. »Duftsäulen«, bemerkte Gisela Senger. »Wir haben sie in jedem Zimmer. Sie wissen sicher, dass alte Menschen, na ja.«
Toppe entdeckte die beiden schlanken, weißen Zylinder, die zwischen den Grünpflanzen kaum auffielen.
»Vanille«, meinte Frau Senger. »Herr Froriep liebt Vanille und Rosen. Das wechselt wöchentlich.«
Toppe ging neben Froriep in die Knie. »Herr Froriep …«
Van Appeldorn zog die Pflegerin beiseite. »Sein Sohn, Jakob Opitz, hat er seinen Vater hier besucht?«
»Ich arbeite seit sechseinhalb Jahren hier, aber den Sohn habe ich noch nie gesehen. Manchmal spricht Herr Froriep von ihm. Es hat sich immer so angehört, als wäre der Junge schon tot. Wissen Sie, wenn jemand achtundneunzig ist, hat er meistens kaum noch Angehörige.«
Toppe kam hinzu. »Seit wann ist Froriep in diesem Heim?«
»Genau kann ich Ihnen das nicht sagen, aber schon viele Jahre. Da müssten Sie in der Verwaltung nachfragen.« Sie rieb sich die Unterarme. »Wollen Sie mir nicht erklären, was eigentlich los ist? Warum kommt die Polizei zu diesem Mann? Verstehen Sie, er ist wunderbar, wenn er einen guten Tag hat.«
»Er hat also noch gute Tage?«, fragte Toppe und ließ den Greis nicht aus den Augen.
»Ja«, antwortete sie, »an manchen Tagen ist er glasklar. Das wird seltener, aber wenn, dann ist es, ich weiß nicht, wie ich das erklären soll …«
Wie alt war sie? Ende zwanzig?
»Versuchst du es noch einmal?«, fragte Toppe, bevor er Gisela Senger mit hinausnahm, um ihr zu erklären, worum es ging.
Van Appeldorn hockte sich neben den alten Mann und fasste nach dessen Händen. »Herr Froriep?«
Sie fuhren nach Kleve zurück mit einem mulmigen Gefühl im Bauch und Gisela Sengers Versprechen, sofort anzurufen, wenn Froriep einen seiner klaren Tage hatte.
Im Präsidium platzten sie mitten in das Telefonat, das Peter Cox gerade mit dem Verlag führte. Er legte die Hand über die Muschel. »Der Offizier auf
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