Die Schatten schlafen nur
Tischchen und machte sich an den Inhalt der Bücherkisten. Helene Domröses Nachlass bestand aus größtenteils ungelesenen Romanen von einem Buchclub, das Beste aus Reader’s Digest und Bildbänden vom Niederrhein, wie man sie von fantasielosen Bekannten zum Geburtstag und zu Weihnachten bekam.
Er schaute auf das zerlesene Kästnerbuch. Wo war Jakobs Nachlass geblieben?
Von neuem durchsuchte er die beiden Bücherkisten, sorgfältiger diesmal, nahm jeden Band heraus, legte ihn zur Seite und fand schließlich ein paar Exemplare, die nicht ins Gesamtbild passten. Sie steckten wahllos irgendwo dazwischen, als hätte man sie übersehen. Toppe trug auch diesen Stapel zum Tisch.
Dann ging er zur Tür und zündete sich eine Zigarette an, aber der schale Geschmack im Mund blieb. Langsam ließ er den Blick über das Sammelsurium im Raum schweifen. Hatte er etwas übersehen? Die Papiere, Versicherungspolicen, Testamente, all das lag beim Nachlassgericht, das konnte er in den nächsten Tagen überprüfen.
Ja, er hatte etwas übersehen! Schnell bahnte er sich einen Weg zwischen den Möbeln hindurch. Der Tisch neben dem Bett hatte eine Schublade. Sie war verschlossen. Toppe zögerte nicht lange, er nahm sein rotes Taschenmesser und knackte behutsam das Schloss. Eine alte Schulausgabe der Lutherbibel, ein teurer Füller mit Goldfeder, ein paar gefütterte Briefumschläge, ein Briefblock.
Er schlug ihn auf. Die Schrift kippelte unsicher, aber man ahnte noch ihre frühere Kraft:
Karsamstag 1989
Mein lieber Vater!
Es erfüllt mich mit Trauer, dass wir den gestrigen Tag nicht miteinander verbringen konnten. Das erste Mal in all unseren schönen gemeinsamen Jahren! Aber ich bin sicher, dass du mich, ebenso wie ich es getan habe, in deine Gebete mit eingeschlossen hast. Gottes Segen, Vater! Leider bin ich nach dieser lästigen Krankheit immer noch zu schwach für eine Reise, aber die Ärzte sind zuversichtlich, so dass wir beide womöglich schon die Pfingsttage
Hier brach der Brief ab. Toppe legte ihn neben sich aufs Bett, dann stand er auf und schloss energisch das Fenster. Er fror.
Der Bücherstapel: Zwei weitere Kästnerbücher, Tucholskys Schloss Gripsholm in einer Rowohlt-Rotations-Roman-Ausgabe, im Großformat noch – die musste ein kleines Vermögen wert sein. Ein dickeres Buch mit einem grauen Einband: Die deutsche Wehrmacht – Werkzeug des Faschismus.
Toppe stutzte und schlug es auf. Von 1963 … Da hatte es schon eine kritische Auseinandersetzung gegeben?! Der Verlag sagte ihm nichts.
Ein Stück Papier lugte am oberen Buchrand heraus. Vorsichtig schlug Toppe den Band an der Stelle auf. Das Papier entpuppte sich als ein weiterer Zeitungsausschnitt, ein Pressefoto, aufgenommen vor dem AKW in Kalkar, eine Kette von Demonstranten, am linken Bildrand, fest bei seinen Nachbarn untergehakt, Opitz mit trotzigem Gesicht. Wann waren die großen Demos gegen den schnellen Brüter gewesen, Anfang der Siebziger?
Toppe legte den Ausschnitt weg und holte scharf Luft, als sein Blick auf das aufgeschlagene Buch fiel. Die obere Hälfte der rechten Seite nahm eine Fotografie ein: Ein deutscher Offizier hatte mit ausgestrecktem Arm seine Pistole im Genick eines jungen Mannes aufgesetzt. Das Gesicht des Opfers voller Gewissheit und dennoch angstverzerrt. Den Täter konnte man nicht erkennen. Er hatte den Mützenschirm tief heruntergezogen, die Augen lagen im Schatten, der Mund war eine dunkle, gerade Linie. Toppe las die Bildunterschrift und spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief: Köslin 1943; Erschießung eines polnischen Kriegsgefangenen.
Der Uniformärmel des Offiziers war ein Stück hochgerutscht und enthüllte ein etwa fünfmarkstückgroßes, dunkles Mal am Handgelenk. Ein Muttermal? Jemand hatte dieses Mal auf dem Foto mit einem Tintenkreis markiert. Jemand … Opitz?
Toppes Hände kribbelten. In Köslin war Opitz geboren, 1943 – da war er acht Jahre alt gewesen und hatte noch im Waisenhaus gelebt. Genickschuss! War Opitz Zeuge dieser Hinrichtung gewesen? Hatte er das Opfer gekannt? Aber der Kringel. Opitz hatte den Täter erkannt! Er kannte jemanden mit einem solchen Mal.
Ungeduldig zerrte Toppe sein Telefon aus der Tasche und gab Cox’ Kurzwahl ein, aber es meldete sich nur die Mailbox. Er hinterließ eine heisere, dringliche Nachricht.
»Kommen Sie nur herein, Frau Tessel«, meinte er dann, ohne sich zur Tür herumzudrehen.
»Ich wusste gar nicht …« Sie tänzelte am Eingang herum und scharrte mit
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