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Die Schatten von Belfast

Die Schatten von Belfast

Titel: Die Schatten von Belfast
Autoren: Stuart Neville
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großgewachsen war, hatte er Mühe, über die Trauernden hinwegzublicken. Dort drüben, zwischen zwei kahlgeschorenen Köpfen erhaschte er einen Blick auf einen blonden Schopf, der sich gerade zur Treppe wandte. Fegan drängte sich bis zum Geländer vor und sah kurz, wie Marie sich die Treppe hinunterwand. Er versuchte ihr weiter zu folgen. Als er den oberen Treppenabsatz erreicht hatte, war sie schon unten angelangt. Er begann, sich die Treppe hinunterzuschieben, und sah, wie sie McKennas Mutter umarmte und wie die Mutter anschließend den Mund verzog, als Marie schon auf dem Weg zur lur war.
    Als er unten ankam, konnte er sie im Sonnenlicht nicht entdecken und wollte schon auf die Straße, als eine Hand sich auf seinen Oberarm legte. Erschrocken drehte er sich um und stellte sich abwehrbereit breitbeinig hin. Ein gleißender Schmerz fuhr ihm in die Schläfe.
    »Mensch, Gerry!« Vincie Caffola lachte. »Ich dachte neulich, dich sehe ich nie wieder.«
    Elf Schatten schlängelten sich durch die Trauernden, nahmen Gestalt an und lösten sich wieder auf. Zwei von ihnen traten neben Caffola, die vagen Formen ihrer Arme zielten auf seinen Kopf. Nicht drauf achten und schön ruhig bleiben, befahl Fegan sich im Geiste.
    Er konzentrierte sich auf die Augen des kahlgeschorenen Schlägers. »Was willst du?«
    Lächelnd legte Caffola ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich und ein paar andere Jungs gehen nachher noch in einen Pub. Hast du Lust?«
    Die zwei UDR-Männer ahmten mit ihren Fingern Pistolen nach. Fegan versuchte alles, um sie nicht wahrzunehmen.
    »In Ordnung«, sagte er. »Hör mal, ich treffe euch dann später. Mir ist es hier zu voll.«
    »Du solltest noch ein bisschen bleiben«, sagte Caffola. »Gleich kommt noch McGinty vorbei. Er hat gesagt, dass er dich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hat.«
    »Nein, ich verziehe mich.« Fegan drückte sich von Caffola weg. »Den sehe ich doch bestimmt morgen. Bei der Beerdigung.«
    »Wie du meinst.« Als Fegan ging, klopfte ihm Caffola noch auf die Schulter. »Dann bis später.«
    Kaum war er draußen, holte Fegan tief Luft, erleichtert, dass er den erdrückenden Bäuchen und Schultern entkommen war. Immer noch standen vor dem Haus Männer zusammen, rauchten und tauschten Geschichten aus. Wieder erwiderte Fegan respektvolles Nicken und murmelte Abschiedsgrüße, bis er ihnen entronnen war. Er packte seine Jackenaufschläge und wedelte damit, um sich Luft zuzufächeln. Dann wischte er sich einen dicken Schweißfilm von der Stirn und machte sich auf den Heimweg.
    Die elf folgten ihm.
    »Werdet ihr eigentlich nie müde?«, fragte er. Er drehte sich um und schaute sie an. Elf Tote in Lebensgröße, die sich auf dem Bürgersteig versammelten und ihn ebenfalls anschauten. Unwillkürlich musste er lachen, ein leichtes Schwindelgefühl befiel ihn. Da niemand seine Frage beantwortete, stellte er noch eine.
    »Was sollte das da drinnen? Was habe ich mir eigentlich dabei gedacht, ihr nachzulaufen? Was hätte ich zu ihr gesagt, wenn ich sie eingeholt hätte?«
    Die Frau, die ihr Baby auf dem Arm trug, trat vor Fegan und sah ihn an. Sie legte einen Finger an die Lippen. Pssst, sollte das heißen. Dann deutete sie mit demselben Finger über seine Schulter. Fegan hörte, wie ein Wagen sich näherte. Er drehte sich danach um. Ein Renault Clio, neu. Mit einem elektrischen Surren fuhr das Fenster an der Beifahrerseite herunter. Fegan blieb stehen.
    »Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen?«, fragte Marie McKenna und senkte dabei ihren Blondschopf, um unter dem Dach hervorlugen zu können.
    Fegan blickte zurück zum Haus, dann in die Richtung, in die er unterwegs gewesen war. Er sah seine Verfolger an. Die Frau mit dem Baby nickte einmal.
    »In Ordnung«, sagte er.
    Auf der kurzen Fahrt hielt Fegan die Hände im Schoß und schwieg. Seine Knie drückten gegen das Armaturenbrett, aber noch mehr Unbehagen verschaffte ihm die peinliche Stille. Fast hätte er sich gewünscht, seine Verfolger wären jetzt mit ihm im Wagen gewesen. Von dem Moment an, wo er in den Wagen gekrochen war, schien Marie kurz davor zu sein, ihm etwas zu sagen, brachte es jedoch nicht heraus. Als sie jetzt vor seinem Haus in der Calcutta Street standen, die von der Springfield Road abging, kämpfte sie sichtbar mit sich selbst, auszusprechen, was sie sich vorgenommen hatte.
    Er wollte ihr schon danken und aussteigen, als sie sagte:
    »Ich habe es nicht so gemeint.«
    »Was haben Sie nicht so gemeint?«, fragte er, obwohl
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