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Die Schatten von Belfast

Die Schatten von Belfast

Titel: Die Schatten von Belfast
Autoren: Stuart Neville
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um ihn zu umarmen. »Ach, mein Junge ist tot, Gerry. Irgendein Schwein hat ihn einfach erschossen. Da kämpft er die ganze Zeit für den Frieden, und dann erschießen sie ihn.« Als sie ihn ansah, waren ihre Augen feucht und voller Zorn. »Möge Gotte ihnen vergeben. Ich tue es nicht.«
    »Wo ist er?«, fragte Fegan.
    »Oben in seinem alten Schlafzimmer. Du weißt ja sicher noch, wo das ist, mein Lieber. Als ihr noch Kinder wart, hast du ja eine Menge Zeit da oben verbracht. Es ist ein geschlossener Sarg.« Ihr versagte die Stimme, und ihre Lippen zitterten. »Ich konnte einfach ihn nicht so sehen, meinen hübschen Jungen.«
    »Ich gehe zu ihm hinauf«, sagte Fegan, bevor McKennas Mutter ihn noch einmal umarmen konnte.
    Er kämpfte sich bis zum Fuß der Treppe durch und stieg mit langsamen Schritten empor. Im Zimmer herrschte respektvolles Schweigen. Fegan war für diesen momentanen Frieden froh. Die wenigen Trauernden im Raum flüsterten nur miteinander, und der Schweiß auf Fegans Haut kühlte ab. Er hätte sich schlimmere Orte vorstellen können als jetzt im selben Zimmer mit Michael McKennas Totenlade.
    Er trat an den Sarg und machte das Kreuzzeichen. Es war ein nüchterner Schrein, weitaus unscheinbarer, als man bei einem so wohlhabenden Mann wie Michael McKenna hätte erwarten können. Aber die Bescheidenheit der Holzmaserung, der Ornamente und Griffe kam nicht von ungefähr. Morgen würde dieser Sarg, drapiert mit einer irischen Trikolore, eine Prozession durch die Falls Road anführen, und Fegan würde ihm folgen, ihn vielleicht sogar ein Stück weit tragen. Er war zwar kein Mann des Wortes, aber was Scheinheiligkeit war, wusste er trotzdem. Doch Scheinheiligkeit kam unter seinen alten Kameraden ebenso wie in der Partei nicht eben selten vor. Er konnte damit leben.
    Zum ersten Mal war er Michael McKenna auf einer harten Bank vor dem Büro des Schulleiters der Christian Brothers School begegnet. Beiden hatten an jenem warmen Juninachmittag Stockschläge bevorgestanden. Fegan konnte sich nicht mehr erinnern, wofür seine Stockschläge gewesen waren, aber McKenna hatte seine für eine Prügelei erhalten. McKenna war ein Jahr älter als Fegan und ebenso stämmig, wie Fegan schmächtig war. Seine Knöchel waren blutig. Schweigend saßen sie da, bis Pater Doran sie hineinrief.
    Fegan nahm seine Schläge hin, ohne einen Laut von sich zu geben. Seine Augen zuckten bei jedem Schlag des Bambusstockes, der von den Wänden widerhallte. Er konzentrierte sich ganz auf das Bildnis der Jungfrau, das über Pater Dorans Schreibtisch hing, und verdrängte die Schmerzen. Einfach nicht drauf achten und schön ruhig sein, dachte er. Mit jedem Schlag errötete Pater Dorans Gesicht mehr. Nach fünf Schlägen legte er den Stock auf das Gelenk zwischen Fegans Daumen und dem Handballen.
    »Du bist mir ja vielleicht ein störrischer Lump, Fegan«, sagte er.
    Sausend durchschnitt der Stock die Luft. Hart traf er auf den Knöchel. Fegans Hand fiel schlaff herab, und er taumelte, schaffte es jedoch, das Gleichgewicht zu behalten. Eine winzige Sonne brannte auf seiner Hand, aber wieder ignorierte er den Schmerz. Er hob die Hand, um weitere Schläge zu empfangen, während sich unter der Haut schon eine Blutblase bildete.
    Mit bebenden Wangen starrte Pater Doran ihm in die Augen. »Ab in die Ecke, du unverschämter kleiner Scheißkerl.«
    Michael McKenna liefen beim dritten Schlag die Tränen über die Backen. Der vierte kam nur noch halbherzig, Pater Doran schienen die Kräfte verlassen zu haben. Mit zorniger Geste entließ er die beiden Jungen.
    Als Fegan draußen durch den Flur ging, rief McKenna: »Wenn du jemandem erzählst, dass ich geweint habe, poliere ich dir die Fresse.«
    Fegan blieb stehen und drehte sich um: »Leck mich am Arsch«, sagte er.
    McKenna plusterte sich vor ihm auf und wischte sich dabei mit dem Ärmel über die Nase: »Was sagst du da?«
    »Leck mich«, sagte Fegan. Er drehte sich wieder um und ging weiter.
    Zwei geballte Fäuste krachten ihm in den Rücken, so dass er nach vorne stolperte. Er fand sein Gleichgewicht wieder und wirbelte sofort mit geballter rechter Faust zu McKenna herum.
    McKenna machte einen Schritt zurück und drohte ihm mit dem Stinkefinger. »Pass bloß auf, du.« Dann machte er kehrt und rannte in die andere Richtung davon.
    Am nächsten Tag hielt McKenna Fegan auf dem Spielplatz an und wollte seine Hand sehen. Fegan zeigte ihm die purpurroten und braunen Striemen auf der Handfläche.
    »Ach du
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