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Die Schatten von Belfast

Die Schatten von Belfast

Titel: Die Schatten von Belfast
Autoren: Stuart Neville
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die Wucht, die tatsächliche Realität seiner Taten zu begreifen, hatte ihm viele Jahre den Schlaf geraubt, ohne dass es dafür seiner schimärenhaften Begleiter bedurft hätte.
    Als Fegan jetzt an den Zechern vorbeischlenderte, versuchte er, nicht an die Vergangenheit zu denken. Doch die Vergangenheit kannte Mittel und Wege, sich dennoch in seine Gedanken zu schleichen, ganz ohne sein Zutun. Er musste an die Frau auf dem Friedhof denken, die Mutter seines zwölften Verfolgers.
    »Sie sind Gerry Fegan«, hatte sie ihn angesprochen. Eine kleine, grauhaarige Frau, deren Wut auf ihm brannte. »Sie sind Gerry Fegan, und Sie haben meinen kleinen Jungen getötet.«
    Fegan erhob sich von dem erbärmlichen Strauß Narzissen, den er auf das Grab seiner eigenen Mutter gestellt hatte. Er suchte nach einer Antwort, irgendeinem Satz, doch er konnte nur an das Entsetzliche denken, was ihrem Sohn widerfahren war.
    »Wo haben Sie ihn hingebracht?«, fragte sie. »Jeden Sonntag komme ich hierher. Ich laufe zwischen den Grabsteinen umher und lese die Namen. Manchmal vergesse ich mich und suche nach seinem Namen. Ich weiß, dass ich ihn nicht finden werde, aber ich suche trotzdem danach. Manchmal muss ich mich einen Moment besinnen, weil mir sein Name nicht mehr einfällt. Beinahe so, als hätte er nie gelebt.«
    Sie machte einen Schritt auf Fegan zu und streckte ihre zitternde Hand nach ihm aus. »Sagen Sie mir, wo Sie ihn hingebracht haben. Bitte. Mehr will ich nicht. Sagen Sie mir nur, wo er ist.«
    Fegan erinnerte sich wieder an das Blut des Jungen, nachdem McKenna ihn in die Mangel genommen hatte.
    Wie rot es gewesen war. »Gerry, wie geht’s?«
    Fegan zwinkerte, um die Erinnerung abzuschütteln, und wandte sich zu demjenigen um, der ihm auf die Schulter geklopft hatte.
    Unter seinem Schnurrbart grinste Patsy Toner zu ihm hoch. »McGinty hat heute nach dir gefragt«, sagte er. »Im Haus von Michaels Mutter. Du hättest noch bleiben sollen.«
    »Was will er von mir?« Fegan nahm einen Schluck Guinness.
    »Es gefällt ihm nicht, wenn ein guter Mann sich so hängen lässt. Dir geht es doch nicht schlecht mit dem Job aus dem Stadtentwicklungstopf, den er dir besorgt hat. Bei seinen Beziehungen kann er diesen Posten noch jahrelang weiterlaufen lassen, und du brauchst keinen Finger krumm zu machen. Du löst einfach nur deine Schecks ein, und keiner stellt blöde Fragen.« Seufzend legte Toner Fegan eine Hand auf die Schulter. »Du hast deine Zeit abgesessen, und jetzt kümmert sich die Partei um dich. Aber du musst auch ein bisschen was zurückgeben. Nicht viel, nur hier und da ein kleiner Auftrag. Kriegst sogar Kohle dafür.«
    »Kein Interesse«, sagte Fegan und wandte sich zum Gehen.
    Toner hielt ihn am Ellbogen fest. »So einfach geht das nicht, Gerry. Bestimmt hast du ja schon die Gerüchte gehört. Zwischen Paul und der Führung hat es einige Reibereien gegeben, wenn du verstehst, was ich meine. Er muss wissen, auf wen er zählen kann. Hör dir einfach an, was er zu sagen hat, und tu, was er dir sagt.«
    Fegan riss seinen Ellbogen los. »Was bist du, ein Botenjunge?«
    »Ich sag ja nur.« Lächelnd hob Toner die Hände. »Mehr nicht, Gerry. Ich erkläre dir nur, wie die Dinge liegen. Aber klar, morgen sieht McGinty dich ja.«
    »Genau«, gab Fegan zurück und ließ Toner mit erhobenen Händen stehen wie einen, der sich ergab.
    Er ging in den hinteren Teil der Bar, in die dunkelste Ecke hinter einem Automaten, an dem nie einer spielte. Von hier aus hatte er den Raum und die Betrunkenen, die im fahlen Licht herumtorkelten, gut im Blick.
    Nur hier und da ein kleiner Auftrag, hatte Toner gesagt. Fegan wusste, was für kleine Aufträge er gemeint hatte. Ein Mann wie McGinty brauchte eine Menge Handlangerdienste. Auch jetzt noch, wo sich in der Bewegung die Politiker durchgesetzt hatten, die mit Schiebereien, Erpressungen und Diebstählen nichts mehr zu tun haben wollten, mussten die Leute ja trotzdem noch an der Kandare gehalten werden. Konkurrenz für die Bars und die Taxiunternehmen musste im Keim erstickt werden. Drogenhändler mussten davon abgehalten werden, in bestimmten Vierteln ihre Ware zu verkaufen - außer natürlich, sie bezahlten Schmiergeld. Wenn eine Wahl anstand, mussten Wahlmuffel abgeholt und zu den Urnen eskortiert werden, wo man sie daran erinnerte, hinter welchem Namen sie ihr Kreuzchen zu machen hatten. Und dann waren da ja noch die Hundertschafen an Leuten, die überhaupt nur an Wahltagen existierten.
    Die
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