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Die Schatten von Belfast

Die Schatten von Belfast

Titel: Die Schatten von Belfast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stuart Neville
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Rasenteppich. Er hätte zu dem hässlichen grauen Gebäudeblock der Studentenvereinigung, der direkt auf der anderen Seite der University Road stand, keinen größeren Kontrast bilden können. Hüben im Gras und drüben jenseits auf den Betonstufen hatten sich größere und kleinere Gruppen von Studenten niedergelassen. Junge, gutaussehende Menschen, die Fegan nie kennenlernen würde. Plötzlich kam ihm in den Sinn, dass die meisten dieser Kinder nie von einer Bombenexplosion aus dem Schlaf gerissen worden waren, bei der die Druckwelle gegen die Fenster hämmerte wie tausend Fäuste und einem das Herz in der Brust gefror. Einen Moment lang war er versucht, ihnen das zu verübeln, aber dann spürte er, wie Ellen ihre kleine Hand anders um seine legte und freute sich für sie. Er stellte sich Ellen als junge Frau vor. Wahrscheinlich würde sie die entsetzliche, immerwährende Angst gar nicht mehr verstehen können, die diese Stadt über dreißig Jahre lang in ihrem Würgegriff gehabt hatte.
    Die Ampel wurde grün. Ellen hielt weiter Fegans Hand umklammert und griff nun auch nach der ihrer Mutter. Gemeinsam überquerten die drei die Straße auf das Ulster-Museum zu. Am Eingang zum Botanischen Garten verschluckte sie der Schatten der Bäume. Jenseits der Universitätsgebäude erstreckte sich vor ihnen der Park. Fegan hatte das plötzliche Verlangen, vor Marie und ihrem kleinen Kind wegzulaufen, doch wie die Hand des kleinen Mädchens sich um seine klammerte, das fühlte sich so schön an. Wo immer sie seine Haut berührte, kam sie ihm rein vor. Sind das die Dinge, die normale Leute tun?, fragte er sich. Ist das das Gefühl, das normale Leute haben? Er hätte es nie für möglich gehalten, dass man in seinem Herzen gleichzeitig vollkommenen Frieden und panische Angst empfinden konnte, doch beide Empfindungen schlugen gleichermaßen wild in seiner Brust, als sie jetzt an den erblühenden Blumen vorbei über den grünen Rasen schlenderten.
    Bei einer Bank gegenüber dem Palmenhaus hielten sie an. Fegan und Marie setzten sich hin, Ellen hingegen wollte durch die Scheiben die Gewächse im Innern bestaunen.
    »Danke, dass ich mit Ihnen spazieren gehen durfte«, sagte Fegan.
    »Gern«, antwortete sie.
    »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
    »Fragen dürfen Sie alles«, sagte Marie und schob sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Sie lehnte sich auf der Bank zurück. »Das heißt aber noch lange nicht, dass ich auch antworte.«
    Fegan beugte sich vor, stützte sich mit den Unterarmen auf den Knie und faltete die Hände. »Warum gehen Sie eigentlich mit so einem wie mir spazieren? Warum haben Sie mich gestern im Auto mitgenommen?«
    »Weiß ich selbst nicht genau.« Sie dachte einen Augenblick nach. »Sie haben mitbekommen, was ich an Onkel Michaels Sarg gesagt habe, aber Sie haben mich nicht dafür verurteilt. Ich habe mich so daran gewöhnt, dass alle mich immer verurteilen. Die Familie, aus der ich komme, kann nicht vergessen, was ich getan habe. Als wäre es schon ein Akt des Verrats, nur wenn man sich in einen Polizisten verliebt. Sie haben ja selbst erlebt, wie schief sie mich gestern und heute angesehen haben. Wohin ich auch komme, wissen die Leute immer schon, wer ich bin, wo ich herstamme und was ich gemacht habe, und sie verurteilen mich dafür. Wahrscheinlich habe ich es deshalb gemacht. Weil Sie mich nicht verurteilt haben.«
    »Ich habe nicht das Recht, überhaupt jemanden zu verurteilen«, sagte Fegan.
    »Aber Sie wissen, wie es ist, wenn man verurteilt wird.«
    »Ja, weiß ich. Aber Sie verdienen es nicht. Sie haben nichts Schlimmes getan. Anders als ich.«
    »Wie leben Sie eigentlich damit?«
    Fegan sah zu, wie Ellen vor dem riesigen Gewächshaus von Scheibe zu Scheibe ging und sich auf die Zehenspitzen stellte, um besser sehen zu können. Trotz des warmen Abends fröstelte ihn. Die Schatten wurden länger, je weiter die Sonne unterging. »Gar nicht«, sagte er. »Die meisten Leute würden so was jedenfalls nicht Leben nennen.«
    »Naja, aber Sie atmen doch, oder?«
    »Das schon.« Gern hätte er Marie von seinen Verfolgern erzählt, von den nächtlichen Schreien und dem weinenden Baby. Er sah sie an. »Aber ich werde die Sache in Ordnung bringen. Ich werde das, was ich getan habe, wieder ausbügeln.«
    Sie lehnte sich vor und sah ihn ebenfalls an. »Und wie?«
    »Das weiß ich noch nicht genau.« Es war nur eine halbe Lüge. Er wusste, was er zu tun hatte. Er wusste nur noch nicht, wie er es anstellen

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