Die Schattenflotte
«Ja, wir wurden gestern Abend informiert. Simon Levi aus Haus 4. Die Kollegen von der Kriminalen waren bereits hier und haben sich seine Sachen aushändigen lassen.»
«Hat Levi hier Angehörige?»
«Nein, soweit wir wissen, war er alleinreisend. Er kam mit der zweiten Gruppe für die Pretoria. Abfahrt am 12. Januar.» Völsch verzog das Gesicht. «Schreckliche Sache.»
«Was mich interessiert», sagte Sören, «Simon Levi muss die Auswandererstadt verlassen haben. So etwas sollte doch eigentlich nicht möglich sein.» Er betonte dabei das Wort
eigentlich
.
Völsch presste die Lippen aufeinander. Seine Worte klangen etwas verlegen: «Ja, das kann sich hier auch niemand erklären.»
Fenstersturz
Das Geländer der neuen Elbbrücke verschwamm hinter der Scheibe zu einem bizarren Muster. Weit dahinter konnte Sören auf dem Strom die zerfurchte Kiellinie eines flachen Schaufelraddampfers erkennen, der die Elbe mühsam aufwärts schipperte. Im Licht der Nachmittagssonne glänzte der weiße Rumpf fast unwirklich hinter den dunklen Rauchschwaden, die stoßweise aus dem mächtigen Schornstein quollen. Sören versuchte, die Geschehnisse zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Über allem schwebte die Frage, wie Simon Levi es geschafft hatte, die Auswandererstadt zu verlassen, und vor allem: warum. Die Bewohner setzten sich nicht über die gegebenen Verbote hinweg, hatte Völsch gesagt. Sie hatten schlichtweg Angst, dass sich ihre Passage in die Neue Welt dadurch verzögern könnte, wenn sie irgendwelche Schwierigkeiten machten. Warum also sollte Levi dieses Risiko eingegangen sein? Für ein paar Stunden Amüsement, wo er doch über die Silvesterfeierlichkeiten und den Trubel in der Stadt kaum Kenntnis gehabt haben konnte? Niemand sonst wurde in der Auswandererstadt vermisst. Er musste irgendeinen Grund gehabt und sich allein auf den Weg gemacht haben. Aber wie?
Das mahlende Schleifen der Räder veränderte seinen Klang, als der Wagen auf die Billhorner Brückenstraße rollte und kurz darauf den Oberhafenkanal querte. Aufder linken Seite erschienen die Poller des Billhafens, rechts in der Ferne konnte Sören Rothenburgsort und den hohen Turm der städtischen Wasserkunst erkennen, bevor die Bahn ruckelnd nach links in die Banksstraße abbog. Gedankenversunken malte Sören mit der Fingerspitze einige Kreise auf die beschlagene Scheibe. Bei allem, was er in der Auswandererstadt erfahren hatte, sehr viel weiter war er mit den Informationen nicht gekommen. Genau genommen hatte er von Völsch nur bestätigt bekommen, was er ohnehin schon vermutet hatte. Allerdings hatte der Polizeileutnant zum Schluss ihres Gesprächs, so freundlich und zuvorkommend er ihm gegenüber gewesen war, seltsam distanziert gewirkt. Es mochte daran liegen, dass er als Ordnungshüter eben dafür mitverantwortlich war, dass nicht geschah, was geschehen war. Bestimmt lag darin der Grund, dass er Sörens Nachfragen mehrfach abgeblockt hatte.
Während die Straßenbahn parallel zu den Gleisen der Dampfbahn am Hammerbrook entlangratterte, versuchte Sören, sich einen Plan zurechtzulegen. Er brauchte mehr Informationen. Die Angaben, die er bislang erhalten hatte, widersprachen sich völlig, und Aufklärung konnte eigentlich nur ein Gespräch mit den ermittelnden Kriminalbeamten liefern. Aber ohne Mandat ließ sich das nur schwer bewerkstelligen. Seit Gustav Roscher vor neun Jahren Leiter der Kriminalpolizei geworden war, hatte sich viel verändert. Der ehemalige Staatsanwalt hatte den ihm unterstellten Polizeiapparat völlig umgekrempelt und eindeutig militärisch ausgerichtet. Nicht nur, was die Organisation betraf, sondern auch das Personal. Das Konstablerkorps und die Schutzmannschaft rekrutierten sich in erster Linie aus Unteroffizieren aus Heer und Marine. Und zu diesen Leuten hatte Sören keine engeren freundschaftlichenKontakte mehr. Bis Anfang der neunziger Jahre hatte er in Polizeisekretär Ernst Hartmann, dem damaligen Leiter der Kriminalpolizei, noch einen ihm freundschaftlich gesinnten Ansprechpartner gehabt. Aber diese Zeiten waren nun vorbei. Roscher selbst kannte er nur flüchtig, und mit den ihm unterstellten Polizeiräten Rosalowsky und Schön war Sören schon häufiger im Gerichtssaal aneinandergeraten. Vor allem Rosalowsky, dem Leiter der Politischen Polizei, musste Sören ein Dorn im Auge sein, denn häufig genug verteidigte er genau die Leute aus der Hamburger Arbeiterschaft, auf die
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