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Die Schattenflotte

Die Schattenflotte

Titel: Die Schattenflotte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
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berufen. Wenn Waldemar Otte nicht mit ihm sprechen wollte, dann war es eben so. Also entschloss sich Sören, die Gelegenheit zu nutzen, und machte sich auf den Weg nach oben.
    Auf dem ersten Podest drängte sich eine dicke Frau an Sören vorbei. Hinter ihr folgte ein Page, der einen schweren Überseekoffer auf einer Sackkarre Stufe für Stufe nach unten beförderte. Aus der Tiefe des Flures vernahm Sören fremdländische Stimmen, dann gingen zwei junge Damen an ihm vorbei und tuschelten aufgeregt. So selten, wie er selbst in Hotels verkehrte, wunderte er sich stets aufs Neue, mit wie viel Leben diese Häuser gefüllt waren.
    Ab der dritten Etage wurde die Treppe etwas schmaler. Ein Zimmermädchen kam ihm mit einem Wäschesack entgegen, blickte ihn verstohlen an und verschwand sogleich wieder durch eine kleine Tür, die sich in einer Nische hinter einem dunklen Vorhang verbarg. Auf den unteren beiden Etagen waren deutlich mehr Leben und Verkehr gewesen, je höher Sören stieg, desto seltener begegnete ihm jemand. Auch waren die Stimmen nur noch entfernt zu vernehmen.
    Sören überlegte, ob Waldemar Otte ihm überhaupt Gehör schenken würde, wenn er erfuhr, wer Sören war. Er musste dem Mann ja nicht verraten, in welchem Verhältnis er zu demjenigen stand, der aufgrund seiner Aussage verhaftet worden war. Dann vernahm er plötzlich polternde Schritte auf der Treppe, die sich rasch näherten. Bevor er ausweichen konnte, war es auch schon geschehen. Der Mann, der um die Ecke gehastet kam, starrte ihn für den Bruchteil einer Sekunde überrascht an, dann traf ihn dessen Körper mit voller Wucht. Sören spürte den Aufprall an der Schulter, taumelte rückwärts, stieß gegen das Treppengeländer und konnte sich erst im letzten Moment festhalten und einen Sturz vermeiden.
    Den anderen hatte es in der Abwärtsbewegung schlimmer erwischt. Der Mann war bäuchlings auf den Stufengelandet und bis zum Ende der Treppe hinuntergerutscht. Wahrscheinlich hatte er sich die Rippen gebrochen, schoss es ihm durch den Kopf, vielleicht sogar das Genick, denn für einen Moment blieb der Mann regungslos liegen und gab keinen Mucks von sich. Doch dann rappelte er sich auf, griff nach der ledernen Mappe neben sich und blickte Sören fassungslos an. Der Inhalt der Mappe lag verstreut auf allen Treppenstufen.
    «Da haben Sie aber Glück gehabt», sagte Sören und bückte sich, um die losen Blätter und Papiere aufzusammeln. Insgeheim wartete er auf eine Entschuldigung, schließlich hatte ihn der Mann über den Haufen gerannt. Aber es kam anders. Der Mann raffte ein paar Blätter, die direkt neben ihm auf dem Boden lagen, zusammen und stopfte sie in seine Mappe, und anstatt ein Wort des Bedauerns zu äußern, drehte er sich einfach um und eilte die Treppe im gleichen Tempo wie schon zuvor nach unten.
    «Hallo! Sie   …!» Sören blickte ihm verdutzt nach und schüttelte verständnislos den Kopf. Dann sammelte er die restlichen Schriftstücke auf, faltete sie ordentlich und steckte sie ein. Er würde sie nachher an der Rezeption abgeben.
    Der Flur der vierten Etage wurde nur durch eine schwächliche Gasfunzel an der Decke beleuchtet. Etwa zehn Räume mochten von hier abgehen. Die Zimmernummern standen in goldenen Ziffern an den Türen. Sören brauchte nicht lange zu suchen. Ottes Zimmer war das dritte auf der linken Seite. Und die Tür stand halb offen.
    «Herr Otte?» Sören klopfte zweimal, aber niemand antwortete. «Herr Otte!» Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Zuerst die Verwechselung an der Rezeption, dann derMann auf der Treppe, der von hier aus dem vierten Stock gekommen war und sich mehr als merkwürdig verhalten hatte. War es vielleicht Waldemar Otte selbst gewesen, mit dem er zusammengestoßen war?
    Sören öffnete die Tür und betrat den Raum. Niemand war zu sehen. Das Zimmer wirkte aufgeräumt, das Bett war gemacht. Eigentlich gab es nichts Auffälliges, und dennoch spürte Sören, dass etwas nicht stimmte. Es mochte am Gehrock liegen, der ordentlich gefaltet über der Stuhllehne lag. An der Melone, die am Garderobenhaken auf der Rückseite der Tür hin und her baumelte, Nicht zu vergessen der Stock, der wie zufällig am Sekretär lehnte. Es war eher unwahrscheinlich, dass jemand ohne diese Utensilien das Hotel verließ. Im selben Augenblick, als Sören sich dessen bewusst wurde, bemerkte er den geöffneten Fensterflügel, der leise quietschend vom Wind auf und zu gedrückt wurde. Noch bevor er das Fenster erreicht hatte, hörte

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