Die Schattenflotte
mit den anthropometrischen Karten vorgelegt hatte. Während Sören Karte für Karte genauestens studierte, haftete sein Blick an ihm, als dürfte ihm keine noch so kleine Veränderung in Verhalten oder Mimik entgehen.
Sören ließ sich Zeit beim Betrachten der einzelnen Karteikarten aus dem Verbrecheralbum. Etwa dreihundert Karten mochten im Kasten vor ihm stecken, jede sorgfältig beschriftet mit Angaben zur Person, allgemeinen Personalien sowie Maßangaben einer exakten körperlichen Vermessung, besonderen Kennzeichen und einer kurzen Beschreibung begangener Verbrechen. Zwei Fotografien, je eine frontal und eine zweite im Profil, vervollständigten auf den meisten Karten die Angaben. Polizeidirektor Roscher hatte ganze Arbeit geleistet. Annähernd hundert Bände mit mehr als 40 000 Fotografien zu fast 200 000 Personen hatte er in nur zehn Jahren Amtszeit als Generalkartenregister anlegen lassen. Diese Verbrecheralben stellten inzwischen das Herzstück der Polizeifahndung dar. Im Karteikasten vor ihm waren nur solche Personen aufgeführt, die sich als Einbrecher auf Panzerschränke und Tresore spezialisiert hatten und derzeit nicht in Haftsaßen. Bislang war Sören noch kein einziges ihm bekanntes Gesicht begegnet. Während er die Gesichter weiter studierte, überlegte Sören, was nur so wichtig an Ottes Unterlagen sein konnte. Irgendetwas mussten sie übersehen haben.
«Nein, von denen kenne ich niemanden.» Sören steckte die letzte Karte zurück in den Kasten. Er dachte daran, ob man von David wohl auch eine solche Karte angefertigt hatte. Das nächste Mal, wenn er ihn im Untersuchungsgefängnis besuchte, würde er ihn darauf ansprechen. Vorhin hatte er einen recht guten Eindruck auf ihn gemacht. Einen besseren jedenfalls als beim ersten Besuch. Mit Erleichterung und einem dankbaren Lächeln hatte David reagiert, als Sören ihm sagte, dass er sich persönlich der Dinge annehmen werde. Den Tod von Waldemar Otte hatte er wohlweislich nicht erwähnt.
Polizeirat Schön war tatsächlich im Haus. Distanziert wie immer hatte er Sören empfangen. Dem Umstand, dass Sören mit seinem Klienten so gut wie verwandt war, wollte er anscheinend keine Aufmerksamkeit schenken. Zumindest vorerst nicht. Während Sören die Vernehmungsprotokolle studierte, trommelte Schön nervös mit den Fingern auf die Tischplatte.
«Der Zeuge hatte bedauerlicherweise einen Unfall», sagte Schön teilnahmslos.
Sören blickte ihn an, als wisse er von nichts.
«Waldemar Otte. Der Zeuge, der bei der Tat zugegen war.»
«Ich würde den Zeugen natürlich gerne zu seinen Angaben befragen, wie Sie sich vorstellen können.»
Schön räusperte sich. «Nun, das wird nicht möglich sein.»
Sören blickte auf und runzelte die Augenbrauen, sagte aber nichts.
«Der Mann ist tot. Er stürzte gestern aus dem Fenster seines Hotels. Ein bedauernswerter Unfall.»
«Ein Sturz aus dem Fenster?», fragte Sören mit Unschuldsmiene. «Ich habe so etwas heute Morgen im
Correspondenten
gelesen. Irgendwo am Hühnerposten. Welch seltsamer Zufall.» Er blickte Schön durchdringend an. «Ein Verbrechen können Sie ausschließen?»
«Ja.» Polizeirat Schön zwirbelte seinen Schnauzer. «Es gibt keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen. Der Zustand des Leichnams zeigte keine Auffälligkeiten, und auch die Befragung des Hotelpersonals ergab keine Anhaltspunkte, die auf eine Straftat hindeuten könnten. Der Mann muss beim Öffnen eines Fensterflügels über die Brüstung gestürzt sein.»
Sören widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Protokoll mit der Zeugenaussage. Der Angestellte an der Rezeption hatte sich also nicht an ihn erinnert. Oder hatte ihn der Mörder bestochen? Er selbst hatte nur gesehen, dass die beiden miteinander gesprochen hatten, wusste indes nicht, worüber. Aber der Kerl hatte in seine Richtung gezeigt. Irgendetwas war hier faul. Sören versuchte, sachlich zu bleiben und sich nichts anmerken zu lassen.
«Wurde Herr Otte dazu befragt, was er zur Tatzeit in der Gegend zu suchen hatte?»
«Aber mein lieber Doktor Bischop.» Der Polizeirat setzte ein wissendes Lächeln auf. «Es ist wohl stark anzunehmen, dass er das Amüsement gesucht hat, wie jeder, der sich des Nachts auf die Reeperbahn begibt. Waldemar Otte stammte aus Danzig. Ich kenne die Stadt nicht näher, aber ich schätze, dass es ein vergleichbares Viertel dort nicht gibt.»
«Er wurde also nicht genauer dazu befragt», kommentierte Sören und las weiter. «Hier steht, er
Weitere Kostenlose Bücher