Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schattenflotte

Die Schattenflotte

Titel: Die Schattenflotte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
Vom Netzwerk:
bei dem Kerl um einen Vigilanten der kriminalen oder politischen Polizei handelte, dann war es undenkbar, dass er von sich aus aktiv wurde. Sollte Sören so lange durch die Korridore des Stadthauses laufen, bis ihm der Kerl irgendwo über den Weg lief? Und selbst dann, was konnte er gegen ihn unternehmen? Er hatte nichts gegen ihn in der Hand. Am meisten aber war ihm der Gedanke zuwider, dass es sich bei dem Kerl um einen skrupellosen Mörder handelte. Offenbar schien er ihn gegenwärtig nicht mehr zu beschatten, warum auch immer.
    Die lauten Stimmen im Flur forderten Sörens Aufmerksamkeit. Es kam nur selten vor, dass Fräulein Paulina die Stimme erhob. «Was ist denn los?», rief er in Richtung Empfangszimmer, denn auf dem Flur war niemand zu sehen.
    Fräulein Paulina kam ihm auf halbem Weg entgegen. «Der Junge hier besteht darauf, zu Ihnen vorgelassen zu werden», erklärte sie und deutete auf einen Knirps von etwa zwölf Jahren, der neugierig seinen Kopf durch die Tür steckte. «Ich habe ihm schon gesagt, dass das nicht so ohne weiteres möglich ist, vor allem wenn man nicht sagt, worum es geht. Aber er lässt sich nicht abwimmeln. Er sagt nur, er muss mit Ihnen persönlich sprechen.»
    «Na, und was willst du von mir?», fragte Sören und machte einen Schritt auf den Jungen zu.
    «Sind Sie Herr Bischop?», fragte der Knirps selbstsicher.
    Sören zog die Augenbrauen hoch. «Muss ich mich ausweisen?»
    Der Junge zog ein Couvert aus seinem Mantel und hielt es Sören hin. «Das soll ich Ihnen aushändigen. Aber nur persönlich.»
    «Aha», entgegnete Sören und nahm den Briefumschlag in Empfang. «Wer hat dich denn beauftragt?» Wahrscheinlich war es die längst erwartete Nachricht von Schmidlein. Hatte er einen Weg für ihn gefunden, auf das Schiff zu gelangen?
    Der Junge zuckte unwissend mit den Schultern.
    «Und was bekommst du für deinen Botengang?»
    «Nix», meinte der Junge und wollte sich dem Ausgang zuwenden.
    «Nun warte doch mal.» Sören versperrte ihm den Weg. «Fräulein Paulina, machen Sie unserem jungen Gast mal eine heiße Schokolade.» Er zog seine Geldbörse hervor und reichte dem Jungen einen Groschen. Dann öffnete er neugierig den Umschlag. Darin befand sich ein gefalteter, mit krakeliger Schrift beschriebener Notizzettel:
    Es gibt wichtige Neuigkeiten. Die Sache ließ mir keine Ruhe, und ich habe etwas Merkwürdiges herausgefunden. Hole Sie heute um sechs in der Schauenburgerstraße mit der Droschke ab. Denken Sie an warme Kleidung. Es kann spät werden. Völsch.
     
    Egon Völsch war pünktlich auf die Minute. Sören hatte vor der Kanzlei auf den Polizeileutnant gewartet und sich den Kopf darüber zerbrochen, was er herausgefunden haben mochte. Es ging darum, wie Simon Levi die Auswandererstadthatte verlassen können, das war klar. Es gab keinen anderen Grund, warum er sich sonst bei Sören gemeldet hätte. Aber warum diese Geheimniskrämerei und warum der Bote?
    Es fiel Sören sofort auf, dass es keine Droschke der Polizei war, mit der Völsch vorfuhr. Auch trug er keinen Uniformrock, was Sören zunächst stutzig machte. Der Polizeileutnant trug einen dicken Wollmantel und hatte sich einen Schal umgeschlagen. Er lächelte ihm vom Kutschbock aus zu, ohne die Zigarre aus dem Mund zu nehmen. Mit zwei Fingern tippte er grüßend an die Krempe seiner Melone. «’n Abend, Doktor Bischop.»
    «’n Abend auch», antwortete Sören, während er das Gefährt bestieg. «Wohin fahren wir?» Die Frage war überflüssig, aber Sören konnte es kaum erwarten, dass Völsch ihm von seiner Entdeckung berichtete.
    «Auf die Veddel. Zu meinem Arbeitsplatz», knurrte Völsch. Dann schwieg er, bis sie auf die Steinstraße einbogen. «Wenn es so ist, wie ich vermute, dann   …» Er ließ den Satz unvollendet und schüttelte verständnislos den Kopf.
    «Es geht darum, wie Levi die Auswandererstadt verlassen konnte, oder irre ich mich?»
    «Nicht nur Levi», sagte Völsch. «Bei einer bestimmten Besetzung in der Polizeistation können die Auswanderer anscheinend passieren.»
    «Es wird zu lasch kontrolliert.»
    «Wenn es nur das wäre.» Es war zu erkennen, dass Polizeileutnant Völsch keinen Blickkontakt wollte. So, als wenn ihm das, was er zu sagen hatte, unangenehm war. Er schaute stur geradeaus auf die Straße. «Ich habe es anfangs nicht für möglich gehalten, aber die Beweise verdichten sich, dass einige meiner Kollegen bestechlich sind.»
    Sören entgegnete nichts, und auch Völsch schwieg eine Weile.

Weitere Kostenlose Bücher