Die Schattenflotte
«Es hat mir keine Ruhe gelassen», meinte er schließlich. «Es war ja eine Tatsache, dass es dieser Levi geschafft hatte, das Gelände zu verlassen. Also habe ich ein wenig Nachforschungen betrieben. Zuerst gab es nichts Auffälliges zu entdecken, aber es hat mich stutzig gemacht, dass bestimmte Kollegen immer wieder um die Versetzung in eine andere Schicht nachfragten. Es waren stets die gleichen Kollegen, und es handelte sich ausnahmslos um die Spätschichten. Dann habe ich mir den Dienstplan vorgenommen und festgestellt, dass es regelmäßig die Tage sind, an denen ich selbst Frühschicht habe. So wie heute … so wie auch letzten Sonntag. Da habe ich mich auf die Lauer gelegt.
Es war nicht einfach, unentdeckt zu bleiben, denn ich musste ja den Eingang im Auge behalten, und an der Außenanlage patrouillieren immer Beamte der Hapag. Schließlich habe ich aber doch ein gutes Versteck in einer Hütte der Gleisbauarbeiter gefunden, die am Wochenende nicht besetzt war und von wo aus ich alles im Blick hatte. Fast wäre ich dann auch noch eingeschlafen, denn es dauerte bis zum Sonnenuntergang, bis tatsächlich das geschah, was ich insgeheim vermutet hatte. Eine sechsköpfige Gruppe Männer verließ kurz nach acht das Gelände und ging zu Fuß in Richtung Anlegestelle. Dem Äußeren nach waren es Aussiedler, aber ob sie eventuell begleitet wurden, konnte ich wegen der Dunkelheit nicht genau erkennen. Jedenfalls gingen sie ohne Laterne. Ich war zu perplex, um schnell zu reagieren, und so kam ich zu spät zum Anleger. Ich konnte gerade noch sehen, dass die Gruppe eine dort wartende Pinasse bestiegen hatte, die in Richtung Veddelkanal davontuckerte. Und wenn ich mit meiner Vermutungrichtig liege, dann wird heute das gleiche Schauspiel stattfinden.»
Völsch hatte die Droschke nahe der Veddeler Station abgestellt, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu besagter Baracke. Der direkte Weg hätte zu dicht an der Auswandererstadt vorbeigeführt, also schlichen sie in einem großen Bogen über das Gelände der Gleisbauer. Der schwache Schein einer Petroleumlaterne, die Völsch dicht über dem Boden führte, leuchtete ihnen den Weg zwischen gestapelten Bohlen, Kies- und Geröllhaufen. Schließlich tauchte die schiefe Baracke vor ihnen auf, ein hölzerner Verschlag mit den Ausmaßen einer kleinen Remise. Die Tür war nur mit einem eingesteckten Nagel gesichert. Als sie eintraten, löschte der Polizeileutnant die Laterne. Vorsichtig tasteten sie sich durch das Dunkel der Hütte bis an ein kleines Fenster, durch das man die von Lampen beleuchteten Palisaden der Auswandererstadt erkennen konnte. Der Haupteingang mit der kleinen Wachstation lag etwas über fünfzig Meter von ihnen entfernt.
Völsch entzündete ein Streichholz und warf einen Blick auf seine Taschenuhr. «In einer halben Stunde ist Wachwechsel», sagte er und feuerte den Stumpen an, den er nach wie vor zwischen den Zähnen stecken hatte. «Auch eine?», fragte er und zog ein längliches Etui aus dem Mantel. Sören lehnte dankend ab. Der Geruch von Rauch und Tabak breitete sich schnell in der kleinen Hütte aus und überdeckte nach kurzer Zeit die faulig moderigen Ausdünstungen, die vom unbefestigten Boden der Baracke aufstiegen.
Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte Sören erkennen, dass der Fußbodender Hütte nur aus ein paar ausgelegten Latten und Brettern bestand, die man in den Morast gelegt hatte. Er fragte sich schon, warum der Boden in dieser Jahreszeit so durchtränkt sein mochte, da entdeckte er über zwei ausgedienten Teereimern in der Ecke der Hütte einen langen Balken. Wie es aussah, war die unverschlossene Hütte in letzter Zeit auch als Abort genutzt worden. Angewidert wendete er sich ab und versuchte, sich auf die Auswandererstadt zu konzentrieren. Die Scheibe war zwar staubig und verschmiert, aber das brachliegende Gelände rings um die festungsgleiche Anlage konnte man trotzdem gut überblicken.
Völsch hatte ein Fernrohr am Auge und blickte konzentriert in Richtung Wachstube. Von Zeit zu Zeit tauchten ein oder zwei Gestalten im Schein der Laternen auf, die um die Anlage patrouillierten, Beamte der Hapag, wie an ihren langen Uniformmänteln und der einheitlichen Kopfbedeckung unschwer zu erkennen war. In der Dunkelheit wirkte die von gelb schimmernden Bogenlampen beleuchtete Anlage wie ein Gefängnis. Nach einer Viertelstunde kam Sören auf Völschs Angebot zurück und zündete sich auch eine Zigarre
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