Die Schattenflotte
einen Bericht darüber gelesen, wie er die Fusion der amerikanischen Stahlkonzerne in die Wege geleitet hat.»
Adi lächelte. «Morgan ist etwa so klein wie Ballin, hat sogar eine noch hässlichere Nase und ist dementsprechend noch größenwahnsinniger. Aber Jupiter, wie Morgan auch genannt wird, hat Ballin etwas voraus: Er verfügt über Unsummen von Geld. Geld, das ihm selbst gehört. Er besitzt nicht nur ein großes Bankhaus und den größten Stahlkonzern der Welt, sondern er kontrolliert inzwischen auch den Großteil der Eisenbahnlinien an der amerikanischen Ostküste. Doch damit nicht genug. Im letzten Jahr hat Jupiter begonnen, Reedereien zu kaufen. Keine kleinen Klitschen und auch nicht irgendwo in Amerika, denn dort gibt es bislang ja kaum eine Handelsflotte, sondern hier in Europa. Darunter die englische Leyland-Linie. Dazu hat er ein Syndikat ins Leben gerufen, die International Mercantile Marine Company. Und jetzt greift er nach den ganz Großen. So, wie es aussieht, wirder noch in diesem Jahr mehrheitliche Anteile der White Star in seinen Besitz bringen. Und dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Hapag ins Visier genommen wird. Es gibt niemanden, der eine Übernahme verhindern kann. Wenn die Aktionäre an Jupiter verkaufen, weil er ihnen ein Vielfaches des eigentlichen Wertes der Aktien zahlt, dann …»
«Aber warum bietet er ein Vielfaches des eigentlichen Wertes?»
«Es ist das Machtstreben, der Machtwunsch eines kleinen abgebrochenen Piefkes, der mit einer Nase wie ein Kaktus rumläuft.» Woermann schlug sich lachend auf die Schenkel. «Nein, im Ernst … Er will einen riesigen Transportverbund, er will ein Monopol. Die Ladung der Schiffe, welche die Ostküste ansteuern, wird mit seinen Eisenbahnen weitertransportiert. Es gibt keine Alternativen dazu. Und das weiß Ballin natürlich. Soweit mir bekannt ist, hat er im Sommer letzten Jahres von Morgans Kaufabsichten erfahren. Er war völlig panisch, und bereits im Herbst hat es ein geheimes Treffen der beiden in London gegeben. Angeblich soll es zu einer vertraglichen Vereinbarung zwischen der Morgan-Gruppe und der Hapag kommen. Das teilte mir zumindest jemand mit, der bei den Vorverhandlungen am 16. Oktober auf Schloss Hubertusstock anwesend war. Ballin hat sich nämlich beim Reichskanzler und bei Seiner Majestät persönlich rückversichert. Ein weiteres Indiz dafür, wie es um die Unabhängigkeit der Hapag bestellt ist.»
Woermann grinste ganz ungeniert. «Natürlich darf davon niemand etwas erfahren. Vor allem die Aktionäre der Hapag nicht. Die nächste Aktionärsversammlung findet im Mai dieses Jahres statt, und wenn Ballin bis dahin keine akzeptable Einigung mit der Morgan-Gruppe zustandegebrachthat, dann ist nicht nur die Zukunft der Hapag fraglich, sondern auch sein eigenes Schicksal bei der Hapag besiegelt. Er steht jedenfalls mit dem Rücken zur Wand. Und dass der kleine Choleriker kein besonders starkes Nervenkostüm besitzt, ist ja allgemein bekannt. Momentan ist seine größte Sorge, dass die Morgan-Gruppe tatsächlich die White-Star-Linie übernimmt. Selbst wenn eine Übernahme der Hapag durch Jupiter verhindert werden kann, entsteht doch eine unglaubliche Konkurrenz für das Unternehmen. Und Thomas und Bruce Ismay sowie William Pirrie, die bisherigen Besitzer der White Star, haben Ballin gegenüber wohl klar zu verstehen gegeben, dass eine Übernahme kaum noch zu verhindern sei.»
«William Pirrie?», wiederholte Sören. Pirrie war der Name des Mannes gewesen, den Ballins Sekretär bei seinem Besuch in der Hapag-Zentrale angekündigt hatte. War Ballin deshalb so nervös geworden?
«Ja, William Pirrie ist der Leiter einer der größten Werften der Welt, der Harland-&-Wolff-Werft in Belfast.»
In Sörens Kopf brauste es. Schneller, als er dachte, fügte sich ein Steinchen ans andere. Waldemar Otte hatte mit der Werft Harland & Wolff Kontakt aufgenommen, und die Werft wollte jemanden nach Hamburg schicken, um sich mit Otte zu treffen. War es Zufall, dass Pirrie zur gleichen Zeit in Hamburg weilte, oder hatte sich der Chef der Werft persönlich auf den Weg gemacht? Ballin hatte ja erwähnt, dass die Hapag einige ihrer Schiffe bei Harland & Wolff fertigen ließ, und dem Bericht aus dem
Unparteyischen Correspondenten
nach hatte die Hamburg-Amerika Linie zurzeit zwei Schiffe in Belfast im Bau. Von daher konnte es sich auch um ein ganz gewöhnliches Treffen von zwei Geschäftspartnern gehandelt haben, was jedoch immer
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