Die Schattenflotte
an. Der bittere Geschmack des Tabaks war allemal besser als der Gestank in der Hütte.
Die Zeit verging, und Sören hoffte, dass sie nicht mehr allzu lang ausharren mussten, denn langsam wurde es empfindlich kalt. Im gleichen Moment wurde er von Völsch angestupst. Es tat sich etwas. Von Norden her kamen zwei Männer auf die Auswandererstadt zu. Jeder von ihnen trug eine Laterne, und sie hielten schnurstracks auf das Wachhäuschen zu. Von den patrouillierenden Beamten der Hapag war weit und breit nichts zu sehen.
«Ich möchte mal wissen, wer da jetzt sitzt», flüsterteVölsch. «Und wie viel derjenige einsteckt. Wenn ich doch nur näher rankönnte.»
Nach kurzer Zeit, es mochten höchstens zehn Minuten vergangen sein, verließ tatsächlich eine Gruppe von zehn Personen die Anlage, ausschließlich Männer, wie man an der Kleidung erkennen konnte. Von den Beamten der Hamburg-Amerika Linie war immer noch nichts zu sehen. «Und jetzt?», fragte Sören.
Der Polizeileutnant war schon an der Tür. «Hinterher», flüsterte er im Befehlston. «Die dürfen keinen Vorsprung bekommen.»
«Sie wollen doch nicht …»
«Keine Angst, Doktor Bischop.» Völsch schüttelte den Kopf. «Ich will nur näher ran, sehen, ob es das gleiche Boot ist wie vorgestern. Vielleicht kann ich jemanden erkennen.»
Sie verließen die Hütte und stolperten in die Nacht. Es war stockdunkel, weder Mond noch Sterne waren zu sehen, über ihnen schwebte ein dichter Vorhang aus grauen Wolken. Nur die tänzelnden Lichtpunkte der Laternen, welche die Männer vor ihnen trugen, dienten ihnen als Orientierung. Sie hielten sich, so gut es eben ging, im Verborgenen und achteten vor allem darauf, nicht über irgendwelche Hindernisse auf dem Boden zu stolpern. Die Dunkelheit bot ihnen zwar genug Schutz davor, von der Gruppe vor ihnen gesehen zu werden, aber Lärm hätte sie unweigerlich verraten. Es waren etwa vierhundert Meter bis zum Anleger, und zum Schluss hatten sie sich den Männern bis auf fast zwanzig Meter genähert. Von der Vorsetze des Anlegers konnte man bereits das Tuckern des wartenden Bootes vernehmen. Die Gruppe vor ihnen beschleunigte ihre Schritte. Stimmen waren zu hören. Was genau gesprochen wurde, konnten sie abernicht verstehen. Am Anleger selbst wurde es hektisch. Sören und Völsch kauerten sich hinter ein Wartehäuschen und beobachteten das Geschehen. Dunkle Rauchschwaden quollen aus dem Schornstein der Pinasse. Die Männer kletterten nacheinander auf das wartende Schiff. Von Bord aus wurde ihnen immer wieder etwas zugerufen. Völsch blickte unbeirrt durch sein Fernrohr, aber seinem stillen Fluchen konnte Sören entnehmen, dass es wohl zu dunkel war, um etwas zu erkennen. Nach wenigen Minuten war der Spuk vorbei. Der Motor des Schiffes dröhnte auf, und langsam setzte sich die Pinasse in Bewegung. Es war niemand zurückgeblieben.
«Die steuern in Richtung Altona oder zu den St. Pauli Landungsbrücken», mutmaßte Völsch. Er schob das Fernrohr zusammen und steckte es in die Manteltasche.
«Woher wissen Sie das?»
Völsch deutete in Richtung des sich entfernenden Schiffes. «Ansonsten wären sie in Richtung Schumacherwärder getuckert. Sind sie aber nicht. Außerdem ahne ich bereits, wo die Reise hingeht: St. Pauli, wahrscheinlich Reeperbahn. Ein wenig Amüsement für die betuchteren Auswanderer, die bei uns untergebracht sind. Ist natürlich strengstens verboten. Aber für einen kleinen Nebenverdienst drückt man schon mal ein Auge zu. – Die Pinasse gehört übrigens zu den Hafenversetzbooten der Hapag.»
«Sind Sie sicher?»
Völsch nickte. «Haben Sie vergessen, dass ich viele Jahre bei der Hafenpolizei war? Da hat man einen Überblick.» Er stöhnte kurz auf und machte einen schweren Atemzug. Dann zündete sich der Polizeileutnant eine neue Zigarre an. «Ein ganz schön mieses Ding, was da läuft. Es würde mich nicht wundern, wenn auch dieReederei hintenrum an der Sache noch verdient. Entweder es kassiert jemand eine dicke Provision, oder man hat extra dafür eigene Lokalitäten angemietet. Wir werden ja sehen, wohin die Reise geht.»
«Und wie wollen wir das herausfinden? Mit dem Wagen schaffen wir es nie rechtzeitig dorthin. Das Schiff wird viel schneller sein.»
Völsch lächelte ihn ruhig an und paffte einige Rauchschwaden aus. Dann entzündete er seine Laterne. «An den Landungsbrücken wartet mein Schwager. Sein Bruder steht am Anleger der Altonaer Fischhalle.» Er zwinkerte Sören verschwörerisch zu.
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