Die Schattenfrau
Frau trug eine dunkle Brille, mehr braun als schwarz. Die Augen waren nur undeutlich zu erkennen. Das Haar war grau und ein wenig unordentlich. Die Haut war dünn und trocken, fast rissig. Winter schätzte ihr Alter auf siebzig Jahre oder mehr. Vielleicht ließ die Hautkrankheit, unter der sie offensichtlich litt, ihr Gesicht älter wirken. Winter wusste noch nicht, wie alt sie wirklich war.
»Und nun wollen sie die Mittel streichen.«
»Wie bitte?«
»Sie wollen die Altenhilfe streichen und mich in ein Heim einweisen.« »Sie wollen das nicht?«
Greta Bremer antwortete nicht. Winter fiel auf, wie verkrampft sie ihre Hände hielt, mit Fingern, die bleich und dünn waren. Vor dem Fenster fuhr die Straßenbahn quietschend um die Kurve, ein Geräusch, das von den Hauswänden zu beiden Seiten widerhallte. Die Häuser standen so nahe, dass es so aussah, als müsse sich die Bahn hindurchwinden.
»Es geht also um meinen Bruder«, sagte Greta Bremer, ohne Winter anzusehen. »Aber setzen Sie sich doch erst.« Noch immer schien sie Winters Blick auszuweichen. Verhielt sich wie eine Blinde, und Winter fragte sich, ob sie das nicht vielleicht war. Er wollte nicht fragen.
»Sie wollen mir Fragen nach meinem Bruder stellen. Ich glaube nicht, dass ich auch nur eine Einzige beantworten kann.«
»Ich werde... «
»Wir haben uns seit vielen Jahren nicht mehr gesehen.« »Warum nicht?«
»Warum nicht?« Jetzt hatte sie Winter das Gesicht zugewandt, aber den Ausdruck in ihren Augen sah er trotzdem nicht. »Tja, wir haben uns nichts zu sagen. Es ist besser, man geht sich aus dem Weg, wenn man sich nichts zu sagen hat.«
»Hören Sie nie voneinander? Bei... Festen oder so?« »Nie. Ich will es so haben. Ich will ihn nie mehr sehen.«
Die Stimme war neutral, und das machte es noch unheimlicher, dachte Winter. Da war keine Bitterkeit, nur eine Stimme, die genauso gut von einem Automaten hätte kommen können wie von einem lebenden Menschen.
»Was ist denn... geschehen?«
»Muss ich Ihnen das sagen? Es hat bestimmt nichts mit dem zu tun, weswegen Sie hier sind.« Sie blickte Winter nicht an, wandte ihm die Seite zu. »Warum sind Sie denn hier, Herr Kommissar?«
»Ich habe Ihnen das am Telefon ja bereits angedeutet.«
Winter erklärte mehr, berichtete von den wenigen Anhaltspunkten, die sie hatten, und spürte, wie dürftig es klang.
»Ich habe zu all dem nichts zu sagen«, meinte sie. »Ich weiß nichts über meinen Bruder.« »Wann haben Sie sich zuletzt gesehen?« Sie war still, aber Winter war sich nicht sicher, ob sie über seine Frage nachdachte. Er wiederholte sie. »Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Ist es über zehn Jahre her?« »Ich weiß nicht.«
»Wie lange sind Sie schon... krank?«
»Ich bin nicht krank. Ich sitze im Rollstuhl, aber ich bin nicht krank. Und jetzt wollen sie die Altenhilfe streichen, oder?«
Winter blickte zum Flur. Die Frau von der Altenhilfe konnte ihr Gesicht nicht rechtzeitig in den Schatten zurückziehen. Sie lauscht, wurde Winter bewusst. Sie ist neugierig. Wäre ich auch.
»Er ist im Gefängnis gewesen«, sagte Greta Bremer. »Aber das wissen Sie ja.«
Winter nickte.
»Sie haben wohl alles in Ihren Akten, nicht wahr?«
»Wie bitte?«
»Sie können wohl sehen, was ein Mensch tut oder getan hat, nicht wahr?«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Frau Bremer?« »Fräulein Bremer. Ich bin Fräulein Bremer.« »Können Sie... Ich verst...«
»Warum kommen Sie denn dann zu mir, wenn sowieso alles in Ihren Akten steht. Sie haben doch ein Archiv, oder?«
»Sicher haben wir ein Archiv«, antwortete Winter. Dieses Gespräch wird immer sonderbarer, schoss ihm durch den Kopf. Sie will oder kann nichts sagen.
»Ich habe ihn viele Jahre nicht gesehen, und dafür danke ich Gott«, murmelte sie jetzt. Sie hatte sich nicht bewegt.
»Haben Sie ihn je in seinem Haus besucht?«, fragte Winter.
»Ja. Aber das ist, wie ich gesagt habe, schon lange her.«
»Wann war das?«
»Es hat keinen Zweck zu fragen. Fragen Sie Ihr Archiv.«
Was hatte sie nur mit dem Archiv. Winter notierte etwas auf seinem Block. Er drehte den Kopf und spähte in den Flur, aber das Gesicht der Helferin war nicht mehr zu sehen.
»Wie lange wohnt er schon dort?«
»Wissen Sie das nicht?«
»Ich frage Sie.«
»Da müssen Sie doch nicht mich fragen?!«
Winter stand auf und trat näher. Greta Bremer in ihrem Rollstuhl hatte sich noch immer nicht bewegt. Winter fasste vorsichtig den Rollstuhl an und fragte: »Ist das
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