Die Schattenfrau
Ringmar.
Winter griff wieder zum Zigarillo, ließ ihn dann aber doch liegen. Er hörte Motorgeräusche von draußen und das höhnische Gelächter der Möwen, die Ankunft und Abfahrt der Streifenwagen verfolgten.
»Keine Vermisstenanzeige«, sagte Winter. »Das kann gut oder schlecht sein.«
»Was könnte daran gut sein?«
»Sie war vor weniger als 24 Stunden noch irgendwo unterwegs. Jemand hat sie gesehen, vielleicht mit ihr gesprochen. Und ich meine nicht den, der sie getötet hat. Wär möglich.«
»Die Meldung kann im Laufe des Tages hereinkommen. Oder morgen.«
»Und so lange sind die Zahnbefunde nutzlos.«
»Ja, wir brauchen ihren Zahnarzt«, bestätigte Ringmar.
»Und ihren Namen, eine Wohnung und Spuren«, sagte Winter. »Man hat das Gefühl, als ob... als wäre es unanständig, von ihr zu reden. Kennst du das?«
»Nein.«
»Mir geht es immer so, wenn wir eine unidentifizierte Leiche haben. Du weißt schon. Kein Friede.«
Ringmar nickte.
»Ich möchte gern noch einen Tag warten mit den Zeitungen und Anschlägen«, sagte Winter.
»Anschläge? Fangen wir mit Anschlägen an?«
»Ja. Die Kollegen in London arbeiten damit, und ich will es auch mal ausprobieren, wenn nötig.«
»Und funktioniert es?«
»Was?«
»Hat es in London etwas gebracht?« »Das weiß ich eigentlich nicht.« »Ach.«
»Ich mache heute Abend einen Entwurf.«
»Was willst du als Bild nehmen?«
»Genau genommen bin ich nicht sicher. Können wir das hier verwenden?« Winter hielt das Foto von dem Gesicht der Toten hoch. »Das ist zwar nicht üblich, aber es ist die einzige Möglichkeit. Eine andere haben wir nicht.«
»Kann ich mal sehen?«, fragte Ringmar und streckte die Hand nach dem Foto aus. Er betrachtete das Gesicht und gab das Bild zurück. »Man fühlt sich nicht wohl dabei. Aber ich nehme an, wir müssen es machen, wenn nicht schnell etwas geschieht. Frisch verstorben und ein einigermaßen gutes Bild. Aber in Göteborg wird es wohl das erste Mal sein.«
»Erinnerst du dich an die Deutsche in Württemberg? Der Sprengsatz? Die Frau war völlig zerfetzt, aber sie haben mittels plastischer Chirurgie ihr Gesicht zusammengesetzt und sind mit diesem Bild an die Öffentlichkeit gegangen.«
»Das ist geschmacklos, absolut.«
»Die Explosion war schlimmer«, widersprach Winter.
Ringmar stand auf, reckte sich. »Für mich ist es schon Abend«, stöhnte er.
»Reiß dich zusammen«, raunzte Winter ihn gutmütig an. »Der Tag hat erst angefangen.«
»Dann reiß du dich zusammen bei der Pressekonferenz«, erklärte Ringmar, indem er sich wieder setzte und ein Bein über das andere schlug. Seine Khakihose und das kurzärmelige karierte Hemd waren wesentlich eleganter als Winters Freizeitshorts und das ausgewaschene Hemd. Winter kratzte sich am Oberschenkel, ganz oben. Er konnte dringend eine Dusche und etwas zu essen gebrauchen. »Pressekonferenz? Wer hat das entschieden? Birgersson?«
»Nein. Sie haben dich gesucht, als du von der Obduktion im Östra hierher unterwegs warst. Wellman.«
Henrik Wellman war der Polizeichef des Bezirks. An ihn mussten sich die Kommissare des Fahndungsdezernats wenden, um Geld für Dienstreisen, mehr Autos und dergleichen zu bekommen.
Über Wellman stand nur noch die Polizeipräsidentin Judith Söderberg. Danach lagen die Fragen in Gottes Hand.
»Will Henrik selbst dabei sein?«, fragte Winter lächelnd.
»Du musst ihn verstehen«, meinte Ringmar. »Junge Frau ermordet, nicht identifiziert. Der Reichstag ist noch nicht eröffnet. Die Hockeysaison hat noch nicht begonnen. Da stürzt sich die Presse auf so was. Sommermord.«
»Sommermord«, wiederholte Winter. »Wir sind Mitspieler bei einem klassischen Sommermord. Der Traum jeder Abendzeitung.«
»Daran ist auch die verdammte Hitze schuld«, sagte Ringmar. »Hätten wir nicht diese Hitzewelle, wäre es was anderes. Zumindest für die Presse.«
»Herbstmord«, sagte Winter. »Falls es Mord ist. Ist es bestimmt, wenn auch noch nicht offiziell. Vielleicht haben wir sie bald schon identifiziert. Tja. Vielleicht ist eine Konferenz mit den Freunden von der Presse ja sogar für was gut. Ich bin wohl wieder derjenige, der uns repräsentieren soll, nehme ich an.«
»Vierzehn Uhr. Bis dann.«
Ringmar stand auf und verließ das Zimmer. Winter nahm sich einen neuen Zigarillo und starrte zehn Sekunden die Decke an. Dann griff er zum Telefon, aber Beier, der technische Kommissar, zuständig für die Spurensicherung und -analyse, war nicht im
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