Die Schattenhand
Abheben.
«Das ist aus der China-Ausstellung», sagte ich. «Ich fand es faszinierend. Wenn ich Sie miteinander bekannt machen darf: ‹Alter Mann, die Wonnen des Müßiggangs genießend›.»
Mein bezauberndes Bild ließ Aimée Griffith kalt. «Na ja», sagte sie, «man weiß ja, wie die Chinesen sind.»
«Es spricht Sie nicht an?», fragte ich.
«Offen gestanden nein. Ich mache mir nicht viel aus Kunst, tut mir Leid. Ihre Haltung, Mr Burton, ist eine typisch männliche: Sie sträuben sich gegen die Vorstellung, dass Frauen arbeiten – dass sie Ihnen Konkurrenz machen…»
Ich konnte nur staunen: Ich hatte die Frauenrechtlerin in ihr geweckt. Aimée war nicht mehr zu bremsen, ihre Wangen glühten.
«Sie wollen nicht wahrhaben, dass es Frauen gibt, die einen Beruf ergreifen möchten. Meine Eltern wollten das auch nicht wahrhaben. Ich wäre so gern Ärztin geworden, aber sie dachten gar nicht daran, mir ein Studium zu bezahlen. Owen haben sie es mit Freuden bezahlt. Dabei hätte ich einen besseren Arzt abgegeben als mein Bruder.»
«Das tut mir Leid», sagte ich. «Es muss schwer gewesen sein für Sie. Wenn man sich etwas sehr wünscht…»
Sie fuhr eilig fort: «Oh, ich bin darüber hinweggekommen. Ich habe eine Menge Willenskraft. Mein Leben ist rege und erfüllt. Ich bin einer der glücklichsten Menschen in Lymstock. Immer beschäftigt. Aber mir platzt einfach der Kragen, wenn ich diesem dummen, altmodischen Vorurteil begegne, der Platz der Frau sei am Herd.»
«Es tut mir Leid, wenn ich Sie verärgert habe», sagte ich. «Aber so habe ich es eigentlich nicht gemeint. Ich sehe Megan ganz und gar nicht in der Rolle der Hausfrau.»
«Nein, das arme Kind. Sie wird nie irgendwo hinpassen, fürchte ich.» Aimée hatte sich beruhigt. Sie klang jetzt wieder recht normal. «Sie wissen ja, ihr Vater…»
Sie machte eine Pause, und ich erklärte unverblümt: «Nein, ich weiß es nicht. Alle sagen nur ‹ihr Vater› und senken die Stimme. Was war mit dem Mann? Lebt er überhaupt noch?»
«Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Ich weiß eigentlich gar keine Einzelheiten. Aber er war auf jeden Fall ein übler Bursche. Gefängnis, wenn mich nicht alles täuscht. Und ziemlich gestört muss er gewesen sein. Deshalb wäre ich auch nicht überrascht, wenn Megan ein gewisses… Defizit hätte.»
«Megan», erwiderte ich, «ist im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, und wie gesagt, halte ich sie für äußerst intelligent. Dieser Meinung ist übrigens auch meine Schwester. Joanna mag Megan sehr.»
Worauf Aimée bemerkte: «Ihre arme Schwester muss sich hier ja zu Tode langweilen.»
Etwas wurde mir klar, als sie das sagte: Aimée Griffith mochte meine Schwester nicht. Die konventionelle Glätte ihres Tonfalls konnte es nicht verbergen.
«Wir haben uns alle schon gefragt, wie Sie beide es aushalten in unserem hinterwäldlerischen Lymstock.»
Es war eine Frage, und ich beantwortete sie.
«Ärztliche Verordnung. Ich sollte mir einen ruhigen Ort suchen, wo nie etwas passiert.» Nach kurzem Schweigen fügte ich hinzu: «Was man von Lymstock ja derzeit nicht gerade behaupten kann.»
«Nein, allerdings nicht.»
Es klang besorgt. Und indem sie aufstand, sagte sie: «Das muss aufhören – diese Abscheulichkeiten. Wir dürfen das nicht länger dulden.»
«Unternimmt die Polizei denn nichts?»
«Wahrscheinlich schon. Aber wenn Sie mich fragen – wir sollten die Sache selbst in die Hand nehmen.»
«Wir sind dafür doch gar nicht ausgerüstet.»
«Unsinn! Intelligenz und gesunden Menschenverstand haben wir mindestens genauso viel wie die Polizei. Der Wille muss da sein, das ist es.»
Sie verabschiedete sich abrupt und ging.
Als Joanna und Megan von ihrem Spaziergang zurückkamen, zeigte ich Megan mein chinesisches Bild. Ihr Gesicht leuchtete auf. «Es ist wunderschön», sagte sie.
«Ganz meine Meinung.»
Sie krauste auf diese typische Art die Stirn. «Aber es wäre sicher furchtbar schwer, oder?»
«Das Müßigsein?»
«Nein, nicht das Müßigsein – aber seine Wonnen zu genießen. Man müsste sehr alt sein…»
Sie stockte.
«Das ist der Mann ja auch», sagte ich.
«So meine ich es nicht. Nicht alt an Jahren. Ich meine alt an…»
«Du meinst», sagte ich, «dass man eine sehr hohe Stufe der Zivilisation erreicht haben muss, um die Sache in diesem Licht zu sehen – eine besondere kulturelle Vollendung? Ich glaube, Megan, ich sollte deine Bildung vervollständigen, indem ich dir hundert Gedichte aus dem
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