Die Schattenhand
brachte die plötzliche Weichheit in Aimée Griffiths Stimme in meinem Hirn, um einen Ausdruck unserer alten Kinderfrau zu gebrauchen, die Rädchen ins Rollen.
Ich sah Aimée neugierig an. Sie fuhr fort – immer noch in diesem weichen Ton:
«Ich kenne Dick sehr gut… Er ist stolz, und er ist sehr zurückhaltend. Aber er ist auch ein Mann, der zur Eifersucht neigt.»
«Das würde erklären», sagte ich bedächtig, «warum Mrs Symmington nicht gewagt hat, ihm den Brief zu zeigen oder ihm davon zu erzählen. Sie hatte Angst, er würde ihren Beteuerungen vor lauter Eifersucht keinen Glauben schenken.»
Miss Griffith musterte mich voll Zorn und Verachtung.
«Meine Güte», sagte sie, «bilden Sie sich ein, irgendeine Frau würde wegen einer aus der Luft gegriffenen Anschuldigung Zyankali schlucken?»
«Der Untersuchungsrichter hielt es für denkbar. Und Ihr Bruder…»
Aimée fiel mir ins Wort.
«Ihr Männer seid doch alle gleich. Euch ist alles recht, solange nur die Form gewahrt bleibt. Aber mir können Sie kein X für ein U vormachen. Wenn eine unschuldige Frau einen hässlichen anonymen Brief bekommt, lacht sie und wirft ihn weg. Wie ich es auch…» Sie brach ab und vollendete dann: «täte.»
Aber das Stocken war mir nicht entgangen. Ich war mir fast sicher, dass der Satz eigentlich hätte lauten sollen: «Wie ich es auch getan habe.»
Ich beschloss, ins Feld des Gegners vorzustoßen.
«Ach», sagte ich liebenswürdig, «dann haben Sie also auch einen bekommen?»
Aimée Griffith war sich zu gut zum Lügen. Sie schwieg kurz, errötete dann und sagte: «Nun ja. Aber ich lasse mir von so etwas nicht die Laune verderben!»
«Schlimm?», erkundigte ich mich teilnahmsvoll, ganz Leidensgenosse.
«Natürlich. Wie solche Briefe eben sind. Die Hirngespinste eines Wahnsinnigen. Ich musste nur die ersten Worte lesen, da wusste ich schon Bescheid und habe das Ding geradewegs in den Papierkorb befördert.»
«Sie haben nicht erwogen, damit zur Polizei zu gehen?»
«Da noch nicht. Ich dachte mir einfach, Schwamm drüber.»
Es juckte mich, feierlich zu erklären: «Wo Rauch ist, ist auch Feuer», aber ich hielt an mich. Um jeder weiteren Versuchung zu entgehen, brachte ich die Sprache wieder auf Megan.
«Wissen Sie zufällig etwas über Megans finanzielle Lage?», fragte ich. «Das ist keine bloße Neugierde meinerseits. Ich habe mich nur gefragt, ob sie es tatsächlich nötig hat, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.»
«Nötig hat sie es streng genommen nicht, glaube ich. Soviel ich weiß, hat ihre Großmutter väterlicherseits ihr ein kleines Einkommen hinterlassen. Und außerdem würde Dick Symmington ihr natürlich jederzeit ein Dach über dem Kopf gewähren und für sie sorgen, selbst wenn ihre Mutter ihr nichts vererbt hat. Nein, es geht ums Prinzip.»
«Welches Prinzip?»
«Arbeit, Mr Burton. Nichts ist so wichtig wie Arbeit, für Männer wie für Frauen. Die einzige unverzeihliche Sünde ist Müßiggang.»
«Sir Edward Grey», sagte ich, «unser späterer Außenminister, musste wegen unverbesserlichen Müßiggehertums sein College in Oxford verlassen. Der Herzog von Wellington, habe ich mir sagen lassen, war sowohl dumm als auch faul. Und haben Sie sich schon einmal überlegt, Miss Griffith, dass Sie wahrscheinlich darauf verzichten müssten, im Schnellzug nach London zu fahren, wenn der kleine Georgie Stephenson mit seiner Jugendgruppe durch die Wälder gestreift wäre, anstatt gelangweilt bei seiner Mutter in der Küche zu hocken, bis das sonderbare Verhalten des Kesseldeckels die Aufmerksamkeit seines müßigen Geistes fesselte?»
Aimée schnaubte nur.
«Ich bin ja der Meinung», ich kam richtig in Fahrt, «dass wir die meisten unserer großen Erfindungen und genialen Errungenschaften dem Müßiggang verdanken, ob er nun erzwungen ist oder freiwillig. Der menschliche Geist zieht es gemeinhin vor, seine Nahrung vorgekaut zu bekommen, doch beraubt man ihn dieser Speise, wird er sich widerstrebend selbst in Bewegung setzen – und solches Denken, wohlgemerkt, ist eigenständiges Denken und kann wertvolle Ergebnisse zeitigen. – Nicht zu vergessen», fuhr ich fort, bevor Aimée erneut die Nase rümpfen konnte, «der künstlerische Aspekt.»
Ich stand auf und nahm von meinem Schreibtisch das Foto meines chinesischen Lieblingsbildes, das mich überallhin begleitet. Es zeigt einen alten Mann, der unter einem Baum sitzt. Er hält ein Stück Schnur mit den Zehen gespannt und spielt mit sich selbst
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