Die Schattenhand
Chinesischen vorlese.»
III
Am selben Tag traf ich in der Stadt auf Symmington.
«Wäre es Ihnen recht, wenn Megan eine Weile bei uns bleibt?», fragte ich. «Dann hätte Joanna Gesellschaft – sie ist manchmal ein bisschen einsam hier, so ganz ohne ihre Freunde.»
«Oh – äh – Megan? Ah, ja, sehr nett von Ihnen.»
Mich erfasste eine Antipathie gegen Symmington, die ich nie wieder ganz los wurde. Er hatte so offenkundig vergessen, dass es Megan überhaupt gab. Ich hätte es ihm nachsehen können, wenn er eine Abneigung gegen das Mädchen gehabt hätte – wenn er eifersüchtig gewesen wäre auf das Kind seines Vorgängers –, aber er hatte nichts gegen sie, er nahm sie nur einfach nicht wahr. Er behandelte sie so, wie ein Mann, der mit Hunden nichts anfangen kann, ein Hündchen behandeln würde, das ihm jemand ins Haus bringt – stolpert er darüber, so flucht er, sitzt es neben ihm, tätschelt er es kurz. Symmingtons vollständige Gleichgültigkeit gegen seine Stieftochter erbitterte mich.
«Was haben Sie denn vor mit ihr?», fragte ich.
«Mit Megan?» Er schaute mich verdutzt an. «Gott, sie wird eben bei uns wohnen bleiben. Schließlich ist es ja ihr Zuhause.»
Meine Großmutter, an der ich sehr gehangen hatte, sang gern alte Lieder zur Gitarre. Eines, erinnerte ich mich, endete so:
O Mägdlein mein, ich zieh allein,
Ich finde nirgends Ruh
Nicht Aufenthalt in Feld noch Wald:
Mein Heimatland bist du.
Ich summte es, als ich nach Hause ging.
IV
Das Teegeschirr wurde gerade abgeräumt, da kam Emily Barton.
Sie wollte über den Garten sprechen. Wir sprachen also eine halbe Stunde über den Garten. Auf dem Weg zurück zum Haus dämpfte sie plötzlich die Stimme.
«Ich hoffe ja nur, dass das Mädchen – dass diese ganze schreckliche Geschichte sie nicht zu sehr belastet » , murmelte sie.
«Der Tod ihrer Mutter, meinen Sie?»
«Das natürlich auch. Aber vor allem meinte ich die – diese unerfreuliche Sache, die dahinter steckt.»
Ich war neugierig. Ich wollte Miss Bartons Meinung hören.
«Was halten Sie denn davon? Ist es wahr?»
«Oh, nein, nein, bestimmt nicht. Ich bin überzeugt, dass Mrs Symmington nie – dass er nicht», die kleine Emily Barton errötete verlegen, «ich meine, es ist sicher überhaupt nichts daran – aber es könnte natürlich eine Heimsuchung sein.»
«Eine Heimsuchung?», wiederholte ich überrascht. Emily Barton erglühte noch heftiger, mehr Porzellanfigürchen denn je.
«Ich kann mir nicht helfen, ich glaube, dass all diese schrecklichen Briefe, all das Leid und der Schmerz, die sie verursacht haben, zu einem bestimmten Zweck gesandt worden sind.»
«Aber sicher sind sie das», sagte ich grimmig.
«Nein, nein, Mr Burton, Sie verstehen mich falsch. Ich meine nicht die irregeleitete Kreatur, die sie geschrieben hat – welch eine verworfene Seele das sein muss! Ich meine, dass die Vorsehung sie uns sendet. Um uns unsere Fehlbarkeit vor Augen zu führen.»
«Finden Sie nicht», sagte ich, «der Allmächtige hätte eine weniger unappetitliche Waffe wählen können?»
Miss Emily murmelte etwas über die unergründlichen Wege des Herrn.
«Nein», sagte ich. «Wir dürfen nicht ständig dem lieben Gott die Sünden in die Schuhe schieben, die der Mensch aus eigenem Antrieb begeht. Den Teufel würde ich Ihnen vielleicht gerade noch zugestehen, Miss Barton. Aber Gott muss uns nicht auch noch strafen. Wir sind schon eifrig genug dabei, uns selbst zu bestrafen.»
«Ich begreife nicht, wie jemand so etwas tun kann.»
Ich zuckte die Achseln.
«Eine kranke Psyche.»
«Es kommt mir so traurig vor.»
«Mir nicht. Mir kommt es schlicht und einfach verdammenswert vor. Und ich entschuldige mich nicht für das Wort. Ich meine es haargenau so.»
Aus Miss Bartons Wangen war das Rosa gewichen. Sie waren kalkweiß.
«Aber warum, Mr Burton, warum? Was für ein Vergnügen schöpft dieser Mensch daraus?»
«Keines, das Sie oder ich begreifen könnten, Gott sei Dank.»
Emily Barton senkte die Stimme.
«Es heißt ja, dass Mrs Cleat – aber das kann ich nicht glauben.»
Ich schüttelte den Kopf, während sie erregt weitersprach:
«So etwas hat es hier noch nie gegeben – so lange ich denken kann. Wir waren immer eine so unbeschwerte kleine Gemeinde. Oh, was hätte meine arme liebe Mutter dazu gesagt? Ein Segen, dass ihr das erspart geblieben ist.»
Ich dachte bei mir, dass die alte Mrs Barton nach allem, was ich über sie gehört hatte, zäh genug
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