Die Schattenhand
hätte sie in jedem Fall schrecklich schockiert.»
Nash schwieg einen Moment, dann fragte er: «Haben Sie eigentlich irgendwelche Briefe erhalten, Miss Holland?»
«Nein. Nein, hab ich nicht.»
«Ganz sicher? Bitte», er hob eine Hand, «lassen Sie sich Zeit mit der Antwort. Anonyme Briefe sind eine scheußliche Sache, das weiß ich. Und viele Leute geben nicht gern zu, dass sie welche bekommen haben. Aber in diesem Fall ist es sehr wichtig, dass wir Bescheid wissen. Uns ist völlig klar, dass alles, was darin steht, erlogen ist, es muss Ihnen also nicht peinlich sein.»
«Aber ich habe wirklich keine Briefe bekommen. Ich schwöre es. Keinen einzigen.»
Sie war aufgebracht und den Tränen nahe, und ihre Beteuerungen schienen aufrichtig.
Als sie zu den Kindern zurückgekehrt war, stellte Nash sich ans Fenster und sah hinaus.
«Tja», sagte er, «so weit, so gut. Sie hat also keine anonymen Briefe erhalten. Klingt fast, als müssten wir ihr glauben.»
«Auf jeden Fall. Ganz bestimmt.»
«Hmm», machte Nash. «Und warum zum Teufel hat sie keine gekriegt?»
Und als ich ihn erstaunt ansah, fuhr er ungeduldig fort: «Sie ist doch ein hübsches Mädchen, oder?»
«Mehr als hübsch.»
«Eben. Sie sieht sogar außerordentlich gut aus. Und sie ist jung. Das gefundene Fressen für anonyme Briefe. Warum ist sie also verschont geblieben?»
Ich schüttelte den Kopf.
«Hochinteressant. Ich muss Graves Bescheid sagen. Er wollte wissen, ob irgendjemand erwiesenermaßen keine Briefe erhalten hat.»
«Sie ist die Zweite», sagte ich. «Vergessen Sie Emily Barton nicht.»
Nash lachte leise in sich hinein.
«Sie dürfen nicht alles glauben, was Sie hören, Mr Burton. Miss Barton hat sehr wohl einen bekommen – mehr als einen.»
«Woher wissen Sie das?»
«Ihre getreue Vermieterin hat es mir erzählt – dieser Drache, der früher bei ihr Stubenmädchen oder Köchin war. Florence Elford. Außer sich vor Empörung. Dürstete nach dem Blut der Schuldigen.»
«Warum sagt Miss Emily dann, sie hätte keinen bekommen?»
«Schamhaftigkeit. Die Ausdrücke darin sind so gar nicht fein. Unsere kleine Miss Barton war ihr Leben lang vor allem Unzarten und Vulgären behütet.»
«Was stand denn in den Briefen?»
«Das Übliche. Völlig absurd in ihrem Fall. Nebst der beiläufigen Unterstellung, dass sie ihre alte Mutter und ein paar von ihren Schwestern vergiftet hätte.»
Ungläubig sagte ich: «Und diese gefährliche Irre kann tatsächlich ihr Unwesen treiben, ohne dass wir ihr sofort auf die Schliche kommen?»
«Wir kommen ihr schon noch auf die Schliche», sagte Nash, und seine Stimme klang hart. «Irgendwann schreibt sie einen Brief zu viel.»
«Himmelherrgott, sie wird doch nicht weitermachen – nicht jetzt.»
Er sah mich an.
«O doch, das wird sie. Sie kann nicht aufhören, verstehen Sie? Es ist eine Sucht. Das mit den Briefen geht weiter, verlassen Sie sich darauf.»
Neuntes Kapitel
I
B evor ich heimfuhr, schaute ich noch einmal nach Megan. Ich fand sie im Garten; sie schien fast wieder die Alte. Sie begrüßte mich ganz fröhlich.
Ich schlug ihr vor, doch fürs Erste noch einmal mit zu uns zu kommen, aber nach kurzem Zögern schüttelte sie den Kopf.
«Das ist nett von Ihnen – aber ich glaube, ich bleibe hier. Schließlich ist es – nun ja, es ist immerhin mein Zuhause. Und vielleicht kann ich mich ja bei den Jungen ein bisschen nützlich machen.»
«Wie du meinst», sagte ich. «Das musst du entscheiden.»
«Dann glaube ich, ich bleibe lieber. Ich darf doch – ich könnte…»
«Ja?», half ich nach.
«Wenn – wenn irgendwas Schreckliches passieren würde, könnte ich doch anrufen, oder, und Sie würden kommen?»
Ich war gerührt. «Natürlich. Aber was soll denn Schreckliches passieren?»
«Ach, ich weiß nicht.» Ihr Blick war vage. «Aber zurzeit passiert doch eine Schrecklichkeit nach der anderen.»
«Um Himmels willen», sagte ich. «Schnüffel bloß nicht noch mehr Leichen aus! Das bekommt dir nicht.»
Sie antwortete mit dem Anflug eines Lächelns.
«Nein, das stimmt. Mir ist davon furchtbar elend geworden.»
Ich ließ sie nicht gern dort, aber sie hatte es selbst gesagt – schließlich war es ihr Zuhause. Und es stand zu hoffen, dass Elsie Holland jetzt etwas mehr Verantwortung für sie fühlte.
Nash begleitete mich zu unserem Haus hinauf. Während ich Joanna über die Geschehnisse des Vormittags Bericht erstattete, versuchte er sein Glück bei Partridge. Er kehrte entmutigt
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