Die Schattenkämpferin 1 - Das Erbe der Drachen
gern geteilt hätte. Ihre eigene Welt war sehr viel nüchterner, es zählte nur das nackte Überleben, ein Leben, das nicht mehr war als Essen, Trinken und Atmen. Lonerin aber zeigte ihr, dass es darüber hinaus noch etwas anderes gab, sehr vieles sogar, Dinge, von denen sie sich jedoch ausgeschlossen fühlte.
Einmal wachte Lonerin im Morgengrauen auf und stellte fest, dass Dubhe fort war. Er machte sich Sorgen. In ihrer Lage war es sehr unklug, auf eigene Faust loszuziehen, zumal sie an diesem Tag einen Schluck von dem Gegenmittel einzunehmen hatte.
Als er nach ihr rief, erhielt er keine Antwort, und so begann er, die Umgebung nach ihr abzusuchen.
Es dauerte eine Weile, bis er sie gefunden hatte. Tief im Wald, zwischen den Bäumen, erblickte er sie, ganz in sich versunken und schwarz gekleidet, genauso, wie er sie zum ersten Mal gesehen hatte, etwas Blitzendes in der Hand, das sie mit eleganten, raschen Bewegungen in weiten Bögen durch die klare Morgenluft schwang.
Lonerin hatte noch niemals einen Assassinen in Aktion erlebt. Zwar wusste er, dass Dubhe für die Gilde und auch schon zuvor getötet hatte, doch hier mit eigenen Augen zu beobachten, wie sehr sie ihre Ausbildung zur Meuchelmörderin verinnerlicht hatte, war eine ganz andere Sache.
Er war fasziniert von ihren katzenhaften Bewegungen, wie sie mit geschlossenen Augen den Dolch tanzen ließ. Es war, als werde ihm hier der Tod in einem ihm unbekannten Gewandvorgeführt. Hier fehlte das Grauen der halb verwesten Leichen, die er als Kind gesehen hatte, in jenem Massengrab, in das die Gilde auch seine Mutter geworfen hatte, nachdem sie Thenaar geopfert worden war. Hier hatte der Tod etwas Betörendes, Verführerisches. Ohne sie anzusprechen, sah er ihr zu.
So bewegt sieb also eine Siegreiche, musste er plötzlich denken. So bewegte sich auch der Mörder, der meine Mutter auf dem Gewissen hat.
Hass überkam ihn und brachte ihm die schmerzlichsten Geschehnisse seiner Vergangenheit in Erinnerung. Dieser Hass auf die Gilde, die ihm die Mutter genommen hatte, war ein unauslöschlicher Teil seines Lebens, eine Last, gegen die er sich immer wieder stemmen musste. Eben deswegen, um dieses zehrende Gefühl in etwas Positives zu verwandeln, hatte er sich in jungen Jahren der Magie zugewandt und jetzt diese Mission übernommen.
Selbst wenn Dubhe, überlegte er jetzt, in die Gilde gezwungen wurde, so gehörte sie ihr doch in gewissem S i n n tatsächlich an. Der Gedanke war ihm lästig. Plötzlich fühlte er sich verstört und verwirrt und beeilte sich, nach ihr zu rufen und so zu tun, als habe er sie gerade erst bemerkt. »Ach hier steckst du also.«
Dubhe war überrascht. »Ja, hin und wieder muss ich meine Übungen machen, meinen Körper geschmeidig halten. Eine alte Gewohnheit von mir«, sagte sie, während sie plötzlich den Dolch losschleuderte in Richtung eines Baumes, nur ein paar Ellen von ihm entfernt. »Ich wusste gar nicht, dass du so ein Frühaufsteher bist.«
Sie trat auf ihn zu und zog den Dolch aus dem Stamm. Ihre Hand zitterte ein wenig.
Das kommt von dem Fluch, dachte Lonerin sofort.
»Aber das sind doch Übungen der Gilde für eine Auftragsmörderin. Wozu brauchst du das als Einbrecherin?«
Dubhe war verblüfft. »Nun, wie gesagt, ich kann mich dabei entspannen. Mein Meister hat mir das alles beigebracht.« »Er gehörte ja auch einmal der Gilde an, nicht wahr?«
Dubhe nickte. Lonerin lag es auf der Zunge, noch etwas hinzuzufügen, unterließ es aber. Einen kurzen Moment blickten sie sich schweigend an.
Dann gingen sie gemeinsam zu der Stelle zurück, wo sie geschlafen hatten, um dort etwas zu essen und ihre Sachen zu packen.
»Du hasst zwar die Gilde, trainierst aber genauso wie die Assassinen . . . « Sofort bereute Lonerin, was er gesagt hatte, doch er war gereizt, ohne dass er den Grund hätte nennen können.
Dubhe schluckte die Bemerkung und erwiderte nichts, setzte sich auf den Boden und nahm einem Schluck aus der Feldflasche. Dann hob sie den Blick. »Das sind eben die Übungen meines Meisters.«
»Eines Siegreichen.«
»Er hatte die Gilde verlassen.«
»Dennoch blieb er auch weiterhin ein Assassine. Ein wenig wie du auch.« Dubhe reagierte nicht, griff nur zu einem Stück Brot von ihren Vorräten. Als Lonerin sah, dass ihre Hand leicht zitterte, freute er sich fast.
Ich habe sie verletzt, habe sie getroffen, endlich, dachte er, um gleich darauf vor sich selbst zu erschrecken.
»Verzeih«, murmelte er, »ich bin . . . etwas
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