Die Schattenkämpferin 1 - Das Erbe der Drachen
im Delirium und murmelte etwas. Ido beugte sich zu ihm hinab, konnte aber kein Wort verstehen. Da öffnete der Halbelf die Augen und blickte ihn aus verschleierten, in die Ferne schauenden Augen an. Sie waren violett, das gleiche Violett wie bei Nihal, und Ido hatte das Gefühl, er würde seine Schülerin wiedersehen.
»San ...«, murmelte der Halbelf jetzt, an Ido gewandt. »Mein Sohn, San ...« Er versuchte, noch etwas hinzuzufügen, doch die Anstrengung war zu groß, er senkte den Blick, und die Augen fielen ihm wieder zu.
Ido spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. In der ganzen Aufregung hatte er einfach nicht daran gedacht, oder schlimmer noch, er hatte es schlicht vergessen!
Hektisch durchsuchte er sofort alle Räume des kleinen Hauses und wusste doch bereits, dass es nur eine Antwort auf seine Fragen gab. Denn jetzt fiel ihm auch dieses hellere Bündel wieder ein, das der eine Assassine unter dem Arm getragen hatte. Die Magd in der Schenke hatte von einem Sohn gesprochen, und der Junge war nicht da. Das konnte nur heißen, dass die Gilde ihn entführt hatte. Sie hatten sich San geschnappt. Aus irgendeinem Grund war er ihnen wichtiger als der Vater. Am liebsten hätte sich Ido unverzüglich an die Fersen der Entführer geheftet, doch er spürte, dass er Tarik nicht allein zurücklassen durfte. Der Leichnam seiner Frau ruhte in dem anderen Raum, und er selbst lag röchelnd auf seinem Bett. Nein, er konnte ihn unmöglich allein sterben lassen. Bis zum Morgengrauen würde er bleiben.
Er setzte sich neben das Bett und betrachtete Tarik in seinem Todeskampf. Den Tod junger Männer hatte er seit jeher als unerträglich empfunden. So viele hatte er schon sterben sehen, zuletzt im Land des Feuers, sich aber nie daran gewöhnt. Bei allen versuchte er sich zu sagen, dass sie nicht umsonst sterben würden, weil sie für eine gerechte Sache gekämpft hatten und ihre Kameraden den Kampf fortführten. Aber es nützte nichts, es wühlte ihn auf. Und doch konnte er nur machtlos ihrem aussichtslosen Ringen mit dem Tod beiwohnen, ihre Hand drücken und ihnen versichern, dass alles gut würde und sie nichts zu fürchten hätten.
Tarik war wie sie. Er atmete schwer und stöhnte im Fieber immer wieder nicht nur den Namen seines Sohnes, sondern auch den seiner Frau. Talya. Talya, San ... Er war Sennar wie aus dem Gesicht geschnitten, mehr als seiner Mutter. Sein Haar war grau, doch wie die Magd in der Schenke gesagt hatte, wirkte sein Gesicht noch jugendlich, seine Züge so willensstark wie die seines Vaters, während seine Ohren tatsächlich so aussahen, wie Nihal sie beschrieben hatten: ein Mittelding zwischen denen eines Menschen und denen eines Halbelfen. Es drängte den Gnomen, mit Tarik zu sprechen: ihm zu berichten, dass sein Vater ihm verziehen hatte, wie er aus Sennars letztem, nun fast schon zwanzig Jahre alten Brief 5 wusste. Ihm zu versprechen, dass er seinen Sohn San finden und in Sicherheit bringen würde, unter Einsatz seines Lebens, und das nicht nur, um die Aufgetauchte Welt zu retten.
Vielleicht hätte er ihm auch nur zu erzählen brauchen, wie viel Nihal ihm bedeutet hatte, seine beste Schülerin und eine echte Freundin, wie er sonst kaum eine im Leben gefunden hatte. Vor allen Dingen aber eine Tochter.
Er wollte gerade beginnen, als Tarik plötzlich die Augen aufschlug. Nihals Sohn schien etwas wacher als zuvor, aber gleichzeitig auch schon entfernter, als sei er nicht mehr ganz von dieser Welt, sondern eine Art Geist, der noch einmal wiederkehrt.
Ido ergriff seine Hand, und beugte sich zu ihm herab. »Wie fühlst du dich?«, flüsterte er.
Hätte er nicht schon viele Jahre zuvor alle Tränen geweint, wären seine Augen jetzt feucht geworden.
Langsam wandte ihm Tarik sein blasses Gesicht zu und sagte nur: »San?« »Dem geht's gut. Die werden ihm kein Haar krümmen, da bin ich ganz sicher.« »Ich möchte ihn sehen.« Tarik Stimme klang rau, fremd.
»Die haben ihn mitgenommen, aber ich verspreche dir, ich werde sie jagen und ihn dir heil zurückbringen.«
Tränen traten in Tariks Augen und liefen langsam die Wangen hinunter. »Ja, bring ihn mir zurück . . . ich flehe dich an . . . bring ihn zurück . . . «
»Ich schwöre es dir.«
Das Atmen fiel Tarik immer schwerer. »Und räche Talya. Übe Vergeltung . . . an meiner Stelle.«
Ido nickte, hielt weiter Tariks Hand. Dann wusste er also, was geschehen war. Er schien alles mit angesehen zu haben.
Sie schwiegen, und eine Weile hörte
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