Die Schattenleserin - Nachtschwarze Träume: Roman (German Edition)
Kyol schubst mich nach vorn, aber ich wirbele herum und renne zum Englischgebäude zurück. Ich werde auf keinen Fall über das offene Gelände laufen.
Weitere Pfeile fliegen durch die Luft. Ich kann nicht erkennen, ob einer der Fae getroffen wird – ich versuche gerade, an Kyol vorbeizukommen –, aber ich höre, dass sich weitere Risse öffnen. Jedes Mal, wenn das helle Licht die Atmosphäre spaltet, hört es sich an, als ob jemand einen dicken Stoff entzweireißen würde. Dieser Lärm und mein laut schlagendes Herz machen es mir fast unmöglich, Kyol zu verstehen.
»Du musst es zum Tor schaffen, McKenzie! Du musst es schaffen!«
Mein Instinkt rät mir, schnellstmöglich ins Gebäude zu gelangen, aber ich vertraue Kyol mit Haut und Haar, daher höre ich auf, mich zu wehren, und werfe einen Blick über die Schulter. Noch immer zischen Pfeile durch die Luft. Einige Sekunden, nachdem sie von den Bogensehnen der Rebellen schnellen, werden sie auch für normale Menschen sichtbar, und wenn ein Fae das Ziel verfehlt oder keinen Riss trifft, können die Menschen die Geschosse sehen, die in Bäumen oder im Boden stecken oder über den Beton rutschen. Doch keiner der Studenten reagiert. Die Rebellen sind sehr vorsichtig.
Ich mache einen kleinen Schritt nach vorn. Einige der königstreuen Fae haben die Dächer zerklüftet und kämpfen dort, andere bleiben auf dem Boden, flitzen in einem nahtlosen Verteidigungstanz in ihre Risse und wieder heraus. Sie lenken die Angriffe der Rebellen auf sich, aber der Weg zum Tor ist weit. Sie werden feuern, bis ich dort ankomme. Einige könnten sterben. Kyol könnte sterben.
»Mir wird nichts passieren«, sagt er, da er mir meine Sorge vermutlich angesehen hat. Er legt mir eine Hand an die Wange. »Solange du in Sicherheit bist, geht es mir gut.«
Ich beiße mir auf die Lippe und nicke. Natürlich wird ihm nichts passieren. Er ist der Schwertmeister des Königs. Er kann auf sich aufpassen. Außerdem werden die Fae mich brauchen, falls einige der Rebellen Illusionisten, Täuscher, sind. Nur ein Mensch mit der Gabe des Sehens kann diese Magie erkennen.
Also ignoriere ich die Studenten, die mich anstarren, hole tief Luft, beiße die Zähne zusammen und laufe los. Kyol und ich arbeiten seit zehn Jahren zusammen – wir wissen, wie der andere sich bewegt, wie er denkt und wie er reagiert –, und so weiß ich, wenn ein Rebell direkt auf uns losgeht und Kyol sich nicht umdreht, dass er ihn nicht sehen kann.
»Zehn Uhr. Jetzt!«, rufe ich.
Kyol fährt wie befohlen herum und zwingt den Rebellen zu einer Parade. Eine Berührung beendet die Illusion eines Fae, daher kann, sobald ihre Waffen klirrend aneinanderschlagen, Kyol ihn sehen. Seine Klinge dringt drei Hiebe später in den Arm des Rebellen ein, doch der Schlag ist nicht tödlich und der Illusionist flieht durch einen Riss.
Danach kehrt Kyol an meine Seite zurück. Ich zucke zusammen, als er beinahe von einem Pfeil getroffen wird, zucke wieder zusammen, als ein weiterer dicht an meinem Gesicht vorbeischwirrt und in dem Riss eines anderen Königstreuen verschwindet. Ich würde mich am liebsten ducken und den Angriffen der Rebellen ausweichen, aber dann würden wir noch langsamer werden und erst recht die Aufmerksamkeit der Menschen auf uns ziehen. Ich habe mich bereits einmal durch eine psychiatrische Untersuchung durchgelogen, und ich bezweifle, dass mir das ein zweites Mal gelingen wird.
Wir rennen an der Bibliothek vorbei. Vor uns taucht der Maschendrahtzaun auf, der die Baustelle des neuen Ingenieurgebäudes umgibt. Ich biege gerade nach links ab, um darum herumzulaufen, aber vor mir formiert sich eine Mauer aus Rissen. Sechs Fae erscheinen. Alles Rebellen.
Ich sage Kyol, wie viele es sind. Offenbar ist keiner von ihnen hinter einer Illusion verborgen, denn er zögert keine Sekunde. Seine Klinge durchschneidet die Luft, als er die Rebellen angreift, aber er kann nicht auf alle sechs gleichzeitig losgehen. Zwei von ihnen scheren aus und kommen auf mich zu.
Ich drehe mich um den Bauzaun und renne los. Es war eine blöde Idee, um den Zaun herumzulaufen. Ich springe hoch und umkralle den Maschendraht. Meine Tennisschuhe finden keinen Halt im Geflecht, und der Draht schneidet in meine Handflächen ein. Es gelingt mir, mich hochzuziehen und drüberzuschwingen, ich lande aber schmerzhaft auf meiner rechten Hüfte. Ich ignoriere den stechenden Schmerz, rapple mich rasch wieder auf und sprinte erneut vorwärts. Als sich direkt vor mir
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