Die Schattenmatrix - 20
kann nicht feststellen, welchen Anteil daran dieser Wächter und welchen Emeldas Einmischung hat. Aber ich glaube, es könnte sich um ein Chieri handeln. Die sind doch aber nicht feindselig, oder?
Soviel ich weiß, nicht. Doch die beiden Mädchen haben nicht gerade wenig Chieri-Blut in den Adern, wenn ich mich nicht irre. Und nach dem Eindruck, den ich von Priscilla empfangen habe, hält sie den Wächter für sehr liebevoll.
Wenn er liebevoll ist, warum hat er dann die Kinder terrorisiert? Ich glaube, dahinter steckt mehr der schlechte Einfluss von Priscilla oder Emelda als irgendetwas anderes. Fürchten die Dorfbewohner eigentlich diesen Geist an der Quelle?
Nein, soviel ich weiß, nicht. Sie scheinen großen Respekt vor ihm zu haben, aber sie reden nicht gern darüber.
In diesem Augenblick rührte sich Emelda, und Liriel bückte sich und zerrte die kleine Wahrsagerin an ihren Kleidern hoch. Mit einer Unbarmherzigkeit, die Mikhail seiner Schwester nie zugetraut hätte, untersuchte sie die Frau, als handelte es sich um ein Insekt. Mikhail konnte spüren, dass Liriel alles andere als freundlich in Emelda hineinhorchte.
Schließlich ließ sie die Wahrsagerin wieder los und drehte sich zu Mikhail um. »Wir werden diese Nacht wohl aufbleiben müssen.« »Einverstanden. Und wir lassen die Kinder hier.« Emelda wirkte nun auf einmal viel kleiner und älter als noch wenige Stunden zuvor. Ihre schmalen Schultern waren nach vorn gebeugt und ihre schwarzen Augen stumpf und glanzlos. »Es wird Euch nichts nutzen«, murmelte sie. »Ob schlafend oder wachend, Ihr werdet tot sein, bevor die Sonne aufgeht.« Dann warf sie einen sehnsüchtigen Blick auf das Holzscheit im Feuer, auf dem immer noch ihr Stein ruhte. Die Flammen des halb verbrannten Scheits waren inzwischen kleiner, und der Stein leuchtete deutlich in dem tanzenden Licht und wirkte völlig harmlos.
Um Mitternacht war es still im Speisesaal. Die Kinder hatten es sich, so gut es ging, in den Stühlen bequem gemacht, die sie zuvor nahe an den Kamin gezogen hatten. Mikhail hatte Duncan einige Decken aus den Schlafzimmern holen lassen, in die sie die Kleinen gepackt hatten. Die Kinder wirkten alle ängstlich, außer Alain, der nicht ganz zu verstehen schien, was hier vor sich ging.
Val stand abrupt auf, und Mikhail fuhr zusammen. Aber das Mädchen legte nur ihre Decke auf den Fußboden. Sie blinzelte Mikhail zu und lächelte. Er wusste, dass sie nicht annähernd so fröhlich war, wie sie aussah, nur ein wenig belastungsfähiger als die Übrigen.
Mikhail nahm noch ein kleines Scheit und warf es ins Feuer. Das Knistern der glühenden Holzkohle im Kamin hörte sich in der Stille des Raumes unglaublich laut an. Draußen hatte sich der Wind zu einer leichten Brise abgeschwächt.
Mikhail ging im Geiste die Vorbereitungen durch, die er für die Abreise von Haus Halyn am nächsten Morgen treffen musste. Er wusste, dass er die Kinder möglichst rasch wegschaffen musste Wächter hin oder her. Er war froh über die Männer, die Liriel mitgebracht hatte, denn er vermutete, dass
sich Priscilla mit Händen und Füßen gegen eine Abreise aus Haus Halyn wehren würde. Seine vornehmliche Sorge galt jedoch dem Wohlergehen der Kinder. Er musste für ihre Sicherheit sorgen nicht wegen des Königreichs oder damit er endlich von der Regentschaft erlöst wurde, sondern weil sie nicht in der Lage waren, sich selbst zu schützen.
Dieses Maß an Hingabe an einen Haufen Bälger, die er vor zwei Monaten noch kaum gekannt hatte, war ein sonderbares Gefühl. Sie waren ihm tatsächlich ans Herz gewachsen, selbst der bemitleidenswerte Alain. Er hatte vorher nie etwas wie die stille Leidenschaft gekannt, die er nun für diese merkwürdigen Kinder empfand, und er fragte sich, ob er eines Tages für seine eigenen Kinder ebenso empfinden würde. Elternschaft war offenbar weitaus vielschichtiger, als er immer gedacht hatte.
Sie würden Decken brauchen, Essen, Mäntel und alles, was die Kinder an warmer Kleidung besaßen. Er würde nicht nur die Pferde nehmen, die Liriels Kutsche gezogen hatten, sondern noch ein zweites Gespann. Er überlegte, ob es im Stall wohl ein Geschirr für einen Vierspänner gab.
Plötzlich verdüsterte sich der Schein des Feuers. Alain schreckte in seinem Stuhl auf. Der Raum wirkte kälter, und ein fremder Geruch lag in der Luft, ein leichter, angenehmer Duft nach Minze. WER STÖRT MEINE RUHE? Mikhail spürte, wie die Frage seinen Geist erschütterte - eine dröhnende Stimme, die
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