Die Schattenmatrix - 20
der Wahrsagerin hing. Emelda öffnete die Augen, sie krallte sie in seine Hand und schürfte sie mit ihren Fingernägeln blutig. Sie kratzte ihm über die Wange, als er ihr den Beutel mit dem verborgenen Stein vom Hals riss. »Wie könnt Ihr es wagen!«, kreischte sie schrill.
Es kostete Mikhail größere Anstrengung, als er gedacht hätte, und er empfand heftigen Widerwillen. Sein ganzes Leben lang war ihm eingeschärft worden, niemals einen fremden Matrixstein zu berühren oder auch nur daran zu denken.
Es war gegen alles, woran er glaubte. Aber nun baumelte das Ding an dem zerrissenen Lederband in seiner Hand.
Emelda versuchte nach dem Stein zu greifen, aber Mikhail hielt ihn außerhalb ihrer Reichweite. Der Beutel, der den Stein umschloss, war nur wenige Schichten dick und damit viel dünner als gewöhnlich, und der Stein war unter der Seide sogar undeutlich zu erkennen. Er schien allerdings nicht leuchtend blau zu sein, wie er angenommen hatte, sondern trüb und verschwommen. Mikhail hätte eher eine giftige Natter berührt.
Liriels Hand schloss sich ein gutes Stück oberhalb des baumelnden Steins um den Lederriemen und nahm ihn Mikhail weg. Emelda schrie aus vollem Halse, die Beschimpfungen flössen wie Gift von ihren Lippen.
»Gebt ihn mir zurück, Ihr Bastarde! Ihr habt kein Recht, mich zu berühren - ich werde Euch töten! Ich werde Euch langsam sterben sehen, Ihr dreckigen Bastarde.« Sie versuchte, sich den Beutel zu schnappen, doch Liriel, die viel größer war als die zierliche Frau, zog ihn fast neckend außer Reichweite.
Was sollen wir tun? Wenn wir den Stein berühren, stirbt sie, und wenn wir es nicht tun …
Überlass das ruhig mir, antwortete Liriel. Dann drehte sie sich um und warf den kleinen Beutel ins Feuer. Er fiel in die Flammen, und die Seide brannte im Nu weg, während der Stein unbeschädigt auf einem lodernden Scheit liegen blieb.
Emelda stürzte zum Kamin. Sie wollte nach dem Stein greifen, aber Mikhail packte sie und hielt sie fest. Sie war ziemlich stark für ihre geringe Größe, und sie wehrte sich wie ein Tier, kratzte und schrie. Mikhail erwartete, dass sie nun, da ihr Stein im Feuer glühte, zusammenbrechen würde, aber sie enttäuschte ihn und blieb nicht nur bei Bewusstsein, sondern war bereit, ihm die Augen auszukratzen, wenn er sie nur ließe.
Mikhail hielt Emelda noch eine Weile fest, dann ballte er eine Faust und versetzte ihr einen Kinnhaken. Der Schlag schmerzte seine ohnehin angeschlagenen Knöchel, und Mikhail verabscheute sich, weil er großes Vergnügen empfand, als seine Faust ihr Ziel traf. Die Wahrsagerin wurde ohnmächtig. Genau das hatte er seit Wochen tun wollen, wie ihm nun bewusst wurde, und er schämte sich. »Sie kommt schon wieder in Ordnung«, sagte Liriel beruhigend. »Jedenfalls so weit sie es je war.«
»Aber erleidet sie denn keinen Schaden, wenn ihr Stein brennt?« »Die Hitze des Feuers wird den Stein nicht wirklich beschädigen, und offenbar löst sein Verlust auch keinen ernsthaften Schock bei ihr aus. Aber das Feuer wird den Stein läutern.«
»Läutern? Wie meinst du das?« Mikhail hatte den Ausdruck noch nie gehört und fragte sich, ob seine Schwester noch bei Verstand war.
»Vertrau mir.« Das Ding ist ein Stück von einer alten Matrixfalle. Und wie die Kräuterhexe dazu gekommen ist, weiß ich auch nicht. Neulich habe ich einige Dinge erfahren, von denen man besser die Finger lässt. Es gibt eine Kiste mit Aufzeichnungen in Arilinn, in die seit Generationen niemand mehr geschaut hat, und das ist auch gut so. Ich habe sie gefunden, als ich mit Jeff nach Möglichkeiten suchte, um Diotima zu helfen. Nach Margueridas Abreise aus Arilinn ernannte ich mich zur Forscherin und habe dabei dieses faszinierende alte Manuskript entdeckt, das schon so verblasst und zerfleddert war, dass man es kaum noch lesen konnte. Und ich habe neues Wissen über die Matrixfallen gewonnen, die seit Generationen niemand mehr vermutet oder benutzt hat.
Du bist eine erstaunliche Frau, liebste Schwester.
Ja, das stimmt. »Heb sie bitte wieder auf.«
»Ungern.« Mikhail war verblüfft über die Ruhe und Sicherheit seiner Schwester. Sie hatte sich seit ihrem letzten Zusammentreffen wirklich sehr verändert. Früher hatte sie nicht die geringste Neigung zu Prahlerei gezeigt und sich selbst ganz gewiss nicht für etwas Besonderes gehalten. Lag es an Mar-guerida oder an etwas anderem? Er wollte es wissen, er musste es wissen, denn Liriel strahlte genau die Art von
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