Die Schattenmatrix - 20
diesem wirbelnden Schneesturm finden? Sie mussten weitergehen, bis sie gerettet wurden, auch wenn Mikhail am liebsten in den Schnee gesunken wäre. Jeder Schritt wurde zur Qual, die Kälte schien sie zu verzehren. Sie waren dem Ziel so nahe, aber sie konnten leicht sterben, bevor man sie fand. Mikhail achtete nicht auf die altbekannte Verzweiflung und versuchte, eine Lösung zu finden. Der Ring! Mikhail öffnete unter Schmerzen seine Hand. Er blieb stehen, schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Matrix. Nachdem er den Kontakt mit dem Sternstein hergestellt hatte, fühlte er, wie er in ihn hineinschlüpfte. Wind und Kälte verschwanden mit einem Mal. Mikhail spürte, wie sich
Marguerida dichter an ihn drängte und fühlte ihr unmittelbares und bedingungsloses Verstehen. Er wusste, sie standen in einer Kugel aus Energie, die jetzt die Elemente in Schach hielt und wie ein Leuchtturm in die Nacht strahlte. Er musste die Kugel nur so lange aufrechterhalten, bis man sie gefunden hatte.
Dann hob Marguerida ihre linke Hand, und Mikhail merkte, wie die Müdigkeit von ihm abfiel. Ihre Schattenmatrizen griffen perfekt ineinander, und sie standen warm und sicher in einer Säule aus blauem Licht.
Wie lange können wir das wohl aufrechterhalten?
Sehr lange, Mik.
Bist du dir sicher?
Nein, ich bin mir natürlich nicht sicher! Aber ich habe nicht den Eindruck, als würde sich deine oder meine Energie aufbrauchen. »Bei Aldones! Was ist das?« Aus dem Schneegestöber erklang eine Männerstimme, gefolgt vom Klagelaut eines Pferdes. Mikhail löste seine Konzentration und trat hinaus in das Schneetreiben und die bittere Kälte. Ein halbes Dutzend Gestalten ritt auf sie zu. Kurz darauf waren sie umringt, geschützt von den Leibern der Pferde. Lew Alton stieg steifbeinig ab.
Er sagte nichts, sondern zog nur Marguerida in die Falten seines riesigen Umhangs. Mikhail nahm eine Decke von einem der Gardisten entgegen und fragte sich, wie Lew wohl hierher gekommen war und wie lange er nach ihnen gesucht hatte. Lew Alton zog Mikhail an sich, drückte die Lippen an die Wange seiner Tochter und murmelte etwas. Mikhail schnappte zärtliche Worte auf, dann spürte er zu seiner Überraschung, wie Lew auch sein Gesicht küsste. Der bärtige Mund war nass, und Mikhail bemerkte, dass Lew weinte.
»Ich war fast wahnsinnig vor Sorge. Wir suchen euch schon seit Stunden!«
»Stunden?«
»Müssen wir diese tränenreiche Wiedervereinigung im Freien begehen? Ich bekomme noch Frostbeulen!« Margueridas Stimme war barsch, aber der Wind dämpfte ihren Klang.
»Du hast ganz Recht, mein Kind!« Lew drehte sich um, und ein Gardist stieg ab. Mikhail sah, dass er seinen Braunen und Dorilys am Zügel führte. Ein weiterer Reiter band eine Decke hinter seinem Sattel los. Er reichte sie hinab, und Mikhail legte sie um Marguerida.
Kurz darauf saßen sie hoch zu Ross und trabten von der Ruine des Turm von Hali weg. Mikhail fror trotz des Umhangs wie ein Schneider, und es kostete ihn sein ganzes Durchhaltevermögen, im Sattel zu bleiben. Er merkte, dass Marguerida dieselben Schwierigkeiten hatte, denn sie versuchte ständig zugleich die Decke festzuhalten und Dorilys zu führen. Schließlich nahm ihr einer der Männer die Zügel aus der zitternden Hand.
Gerade als Mikhail dachte, er würde es nicht weiter schaffen, sah er die Lichter des Gasthauses schwach durch den Schnee leuchten. Im Osten war ein rötlicher Schein zu sehen, und Mikhail begriff, dass es gerade zu dämmern begann. Ging die Mittwinternacht eben erst zu Ende? War kaum eine Nacht in ihrer eigenen Zeit vergangen, während sie mehrere Tage im Zeitalter des Chaos zugebracht hatten? Mikhail fühlte sich seltsam orientierungslos. Lew Alton hatte von Stunden gesprochen.
Die Tür des Gasthauses ging auf, und freundliches Licht ergoss sich auf den platt getretenen Schnee im Hof. Mikhail schaffte es gerade noch, allein von Stürmer abzusitzen, dann gaben seine Beine nach. Zwei Gardisten packten ihn an den Armen und schleppten ihn hinein. Lew hatte Marguerida be
reits vom Pferd geholfen und in den gesegneten Unterschlupf gebracht.
Mikhail spürte die Wärme im Gasthaus an den eiskalten Wangen. Er roch Holzfeuer und Haferbrei. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Dann begann er am ganzen Leib zu zittern, denn seine Kleider waren völlig durchnässt von schmelzendem Schnee. Er war unendlich müde.
Gleichzeitig fühlte er sich abseits der Gegenwart, als befände er sich zum Teil noch immer in der
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