Die Schattenmatrix - 20
verraten er sich fühlen würde.
»Ein kluger Mann kennt seine Grenzen«, hatte Lew gesagt. Dann hatte er trocken hinzugefügt: »Ich habe Jahrzehnte gebraucht, um das zu begreifen.«
Diese Erinnerung beruhigte Mikhail, und das dumpfe Gefühl ließ etwas nach. Er wünschte, er könnte jetzt mit Lew sprechen, denn der Ältere hätte bestimmt einen weisen Rat für ihn. Wo er wohl gerade war? Wahrscheinlich in Thendara oder in Arilinn, um Diotima zu besuchen. Mikhail hielt unschlüssig inne, wie so oft in letzter Zeit. Er konnte sich nicht überwinden, mit seinen Problemen zu Lew Alton oder zu jemand anderem zu gehen. Es musste einen anderen Weg geben.
In diesem Moment juckte es ihn im Nacken, und er hob den Arm, um sich zu kratzen. Doch sofort wurde ihm klar, dass es sich nicht um ein körperliches Jucken handelte, sondern um ein geistiges. Liriel! Das Bild seiner Schwester flackerte wie hinter einem Schleier in seinem Bewusstsein auf, verschwand aber gleich wieder. Es war, als würde sich sein Verstand schon beim Gedanken an sie wie Blätter im Wind zerstreuen.
Mit düsterer Entschlossenheit konzentrierte er sich und holte das geistige Bild seiner Schwester zurück. Er dachte an ihren üppigen Körper, weich und doch sehr kräftig. Er erinnerte sich daran, dass ihre Kleidung immer nach wilder Melisse roch, vermischt mit einem ihrer Düfte - ein scharfer, erfrischender Geruch. Er spürte, wie sich seine Hände ballten, als er an Mathias vorbeikam, der wieder im Flur saß. Der Gardist hob neugierig eine Augenbraue.
»Wie geht es dem Jungen?«
»Wie es jemandem geht, der sich die ganze Zeit fürchtet.« »Da bin ich aber froh. Er ist nämlich so ein braver Junge, wenn er nicht gerade in seinem Schlafanzug zittert.«
»Ja, ich weiß, und es geht mir sehr nahe, dass er immer so gequält wird. Ich sage dir, Mathias, dieses Haus ist …«
»Verflucht, Herr?«
»Ich wollte sagen >ungesund<, aber >verflucht( passt auch.« »Werden wir denn hier bleiben?«
»Ich weiß es wirklich nicht.« Wieder fühlte er sich von einer dumpfen Unentschlossenheit beherrscht.
»In ein paar Wochen werden wir hier nämlich eingeschneit sein.« Mathias redete bedächtig wie immer, als versuchte er eine äußerst wichtige Information zu übermitteln, ohne sie direkt auszusprechen. »Ja, ich weiß.« Aber ich weiß nicht, ob ich einen ganzen Winter in diesem Haus überlebe.
Mikhail öffnete die Tür zu seinem Zimmer und trat ein. Er stand eine Weile vor dem verlöschenden Feuer, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, unbewusst hatte er diese für Regis typische Haltung eingenommen. Er fühlte sich inzwischen weniger unsicher, und seine Entschlusskraft wuchs, während er wartete. Er würde mit Liriel Kontakt aufnehmen und sie um Rat fragen, schließlich hatte sie mit solchen Dingen viel mehr Erfahrung. Mikhails Mund verzog sich unwillkürlich zu einem bedächtigen Lächeln. Er hatte Liriel noch nie um etwas gebeten, doch er wusste, dass sie sich sehr darüber freuen würde.
Er legte ein paar Holzscheite nach, setzte sich und zog seinen Matrixstein unter dem Nachthemd hervor. Seine Finger fummelten hektisch an den Riemen des seidenen Beutels herum, und fast hätte er ihn fallen gelassen. Er nahm einen geistigen Druck wahr, eine so vage und feine Spur, dass er an ihrer Echtheit zweifelte. Ohne weiter darauf zu achten, konzentrierte er sein ganzen Denken und seine Energie nur darauf, den Edelstein in die Hand zu bekommen. Als Mikhail in die facettierten Tiefen seiner Matrix starrte, ertappte er sich dabei, dass er nicht an seine Schwester, sondern an Marguerida dachte. Er warf einen Blick auf sein zer
knülltes Bett und runzelte die Stirn. Die Laken sollten besser vom Liebesspiel durcheinander geworfen sein. Er fragte sich, ob es ihm je gelingen würde, die Frau zu heiraten, die er so sehr liebte und nach der er sich mit jedem Atemzug sehnte.
Es war eine angenehme Ablenkung, an Marguerida zu denken, aber er hatte den Verdacht, dass er es später bereuen würde. Jetzt war es nur wichtig, Liriel zu erreichen. Langsam, mit gewaltiger Konzentration, zwang er seinen Geist, sich von allen Gedanken zu befreien, außer dem Wunsch, mit seiner Schwester Kontakt aufzunehmen.
Liriel!
Was ist? Es ist mitten in der Nacht! Du hörst dich an, als würdest du aus der Tiefe eines Brunnens rufen, Bredu.
Sein Mund verzog sich unwillkürlich zu einem breiten Grinsen. Die verspannten Gesichtsmuskeln schienen diese mittlerweile ungewohnte Bewegung allerdings nur
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