Die Schattenmatrix - 20
aufzufressen.«
»Dich aufzufressen?« Das war neu und beunruhigte Mikhail. »Wie ein Banshee.«
»Emun, Banshees kommen nicht so weit von den Bergen herunter.« »Das weiß ich doch, Mik!« Von einer Sekunde zur nächsten wurde aus dem verängstigten Kind ein normaler Heranwachsender, und er versuchte ein schwaches Grinsen. »Ich sagte ja auch wie ein Banshee.«
»Schon. Aber da du noch nie ein Banshee gesehen hast, weiß ich nicht, wie du einen solchen Vergleich anstellen kannst.« »Doch, das kann ich. Vincent hat mir alles über sie erzählt.« »Und wie vielen Banshees ist Vincent schon begegnet?« Emun lachte. »Keinem natürlich. Ich kenne niemanden, der eins gesehen hat, es sei denn, du hast eins gesehen.«
»Ich habe auch noch kein Banshee gesehen, und ich bin aufrichtig froh darüber. Mein Vater hat vor vielen Jahren hoch droben in den Hellers mal eins gesehen, und seiner Be
schreibung nach verzichte ich mit Freuden darauf, ihre Bekanntschaft zu machen.«
Emun lächelte kraftlos über Mikhails Scherz. »Vielleicht war es auch nur der Geist eines Banshees.« Er sah jetzt wie ein ganz normaler junger Bursche aus.
Mikhail überlegte einen Moment, wie seltsam ihre Unterhaltung doch war, aber eigentlich ging es ihm nur darum, Emun zu beruhigen und wieder ins Bett zu kommen. Nein, irgendetwas musste er vorher noch tun. Warum fiel ihm bloß nicht mehr ein, was es war? »Das ist aber eine beängstigende Idee - und ich glaube kaum, dass dir das selbst eingefallen ist. Hat Vincent dir vielleicht erzählt, dass Banshees einen Geist haben?«
»Ja«, gab Emun widerwillig zu. »Er sagte, nichts kann den Geist von einem Banshee aufhalten.«
»So etwas habe ich ja noch nie gehört! Und wenn es wahr wäre, wüsste ich es. Jetzt vergiss den Traum, junger Mann. Trink deinen Tee aus, und dann schlaf weiter.«
»Ich muss mich erst noch um diese Schnitte kümmern, Dom Mikhail«, warf Becca ein, »die sind ziemlich schlimm, und ich will nicht, dass der kleine Emun eine Entzündung bekommt. Du bist doch mein Augapfel, Emun, das weißt du.« Sie zwickte ihn mit ihren dürren Fingern in die Backe, und Emun sah aus, als würde er sie am liebsten erwürgen, weil sie ihn wie ein kleines Kind behandelte.
»Ja, natürlich«, sagte Mikhail und schaute weg, um Emun die Peinlichkeit zu ersparen. Er spürte, dass die Wut des Jungen auf die alte Frau seinen kläglichen Rest an Lebenskraft wiederherstellte. Mehr konnte er nicht erhoffen. »Ich lasse euch jetzt allein.« Mikhail ging rasch aus dem Zimmer, er war froh, dass der Albtraum des Jungen keinen schweren Anfall ausgelöst hatte. Er würde wegen Vincent Elhalyn dringend etwas unterneh
men müssen, aber wusste noch immer nicht recht, was. Eine logische Lösung wäre, ihn nach Arilinn zu schicken, falls es dazu nicht bereits zu spät war. Er runzelte die Stirn bei der Vorstellung, wie der tyrannische Vincent auf Mestra Camilla MacRoss traf. Doch obwohl Priscilla ihn dazu drängte, Vincent umgehend mitzunehmen, bestand sie gleichzeitig unnachgiebig darauf, dass er nicht zur Ausbildung in einen Turm geschickt wurde. Als hätte sie Angst, dort könnte man etwas über den Burschen herausfinden oder ihm könnte etwas zustoßen. Und wie bei ihren anderen strikten Weisungen auch, gab sie keine vernünftige Erklärung dafür ab. Vincent hätte dringend nach Arilinn oder in einen anderen Turm gehen müssen, als sich sein Laran zum ersten Mal bemerkbar machte.
Val hatte ihn vor ein paar Stunden noch gewarnt, dass Vincent garantiert eine Möglichkeit finden würde, sich für den Rausschmiss aus dem Speisesaal zu rächen, und er hatte sie nicht ernst genommen. Er war ein Narr und ein Versager. Er schaffte es nicht einmal, einen Jugendlichen zu disziplinieren! Wozu taugte er überhaupt? Wie hatte er sich nur einbilden können, er sei zum Herrscher geeignet!
Während Mikhail sich müde in sein Zimmer zurückschleppte, beschloss er, Hilfe zu rufen, und zwar sofort. Er fühlte sich als Versager, weil er ohne Unterstützung nicht mit der einfachen Aufgabe fertig wurde, die Elhalyn-Kinder zu prüfen und festzustellen, welcher von ihnen am ehesten als König geeignet war. Dann fiel ihm plötzlich ein, was Lew Alton bei einem Spaziergang im Tagesgarten von Arilinn zu ihm gesagt hatte. Die beiden hatten dort viel Zeit miteinander verbracht und waren sich in einer Weise nahe gekommen, wie es Mikhail mit seinem eigenen Vater nie erlebt hatte. Wie verärgert Dom Mikhail wohl wäre, wenn er das wüsste, und wie
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