Die Schattenplage
denen Vanessa bei ihrer Suche nach dem Artefakt in verschiedene Bereiche Fabelheims gefolgt war. Unter anderem zu einer Teergrube, in der es spukte, in einen giftigen Sumpf sowie in die Höhle eines Dämons namens Graulas. Kendra verstand nicht alle Anmerkungen, die Vanessa gemacht hatte, denn manche davon waren in einer nicht entzifferbaren Kurzschrift verfasst.
Kendra richtete sich auf und griff nach einem Streichholz, um die Kerze anzuzünden, damit sie weitere Seiten in Augenschein nehmen konnte. Sie musste sich irgendwie von der bevorstehenden Reise nach Atlanta ablenken.
»Schon wieder Heimweh nach der Bibliothek?«, fragte Seth und erschreckte sie, als er das Zimmer betrat.
Kendra drehte sich zu ihrem Bruder um. »Kalt erwischt!«, beglückwünschte sie ihn. »Ich lese.«
»Ich wette, die Bibliothekare geraten langsam in Panik. Sommerferien und keine Kendra Sørensen, die sie im Geschäft hält. Haben sie dich noch nicht angeschrieben?«
»Es könnte dir nicht schaden, auch mal in ein Buch zu schauen, nur so als Experiment.«
»Stell dir vor, ich hab im Wörterbuch die Definition für Trottel nachgeschlagen. Und weißt du, was da stand?«
»Ich wette, du wirst es mir gleich erzählen.«
»Wenn du dies liest, bist du einer.«
»Du bist schlimmer als die Pest.« Kendra wandte sich wieder dem Tagebuch zu und blätterte ein paar Seiten weiter.
Seth setzte sich auf sein Bett. »Kendra, jetzt mal ehrlich. Ich kann ja irgendwie verstehen, wenn man zum Spaß einen coolen Roman liest, aber staubige alte Tagebücher? Ist das dein Ernst? Hat dir mal jemand erzählt, dass da draußen magische Geschöpfe leben?« Er zeigte aufs Fenster.
»Hat dir mal jemand erzählt, dass diese Geschöpfe dich fressen können?«, erwiderte Kendra. »Ich lese diese Tagebücher nicht nur zum Spaß. Es stehen auch wertvolle Informationen drin.«
»Und was zum Beispiel? Dass Patton und Lena miteinander geknutscht haben?«
Kendra verdrehte die Augen. »Das verrate ich dir nicht. Eines Tages wirst du noch in einer Teergrube ertrinken.«
»Es gibt eine Teergrube?«, fragte Seth begeistert. »Wo?«
»Du kannst es gern selbst nachlesen.« Kendra deutete auf den riesigen Stapel von Tagebüchern neben ihrem Bett.
»Da ertrink ich doch lieber!«, konterte Seth. »Es haben schon klügere Leute als du versucht, mich mit einer List zum Lesen zu bringen.« Dann saß er still da und starrte sie an.
»Was ist los?«, fragte Kendra. »Langweilst du dich?«
»Nicht so wie du.«
»Ich langweile mich nicht«, entgegnete sie selbstgefällig. »Ich fahre nach Atlanta.«
»Das ist unter der Gürtellinie!«, protestierte Seth. »Ich kann nicht glauben, dass sie dich zu einem Ritter machen und mich nicht. Wie viele Wiedergänger hast du ausgeschaltet?«
»Keinen Einzigen. Aber ich habe sehr wohl dabei geholfen, einen Dämon zu besiegen, eine Hexe und einen riesigen geflügelten, säurespeienden dreiköpfigen Panther.«
»Ich bin immer noch sauer, weil ich den Panther nicht gesehen habe«, murmelte Seth verdrossen. »Tanu und Coulter haben heute ihre Einladungen bekommen. Hört sich so an, als würdet ihr morgen aufbrechen.«
»Ich würde dich ja an meiner Stelle fahren lassen, wenn ich könnte«, meinte Kendra nachdenklich. »Ich traue dem Sphinx nicht.«
»Das solltest du auch nicht«, bekräftigte Seth. »Er hat dich beim Tischfußball gewinnen lassen. Er hat es mir mehr oder weniger verraten. Der Bursche ist ein Profi.«
»Das sagst du bloß, weil er dich haushoch geschlagen hat.«
Seth zuckte die Achseln. »Willst du mal raten? Ich habe ein Geheimnis.«
»Nicht mehr lange, jetzt, da du die Tatsache schon mal erwähnt hast.«
»Du wirst es nie aus mir herausholen.«
»Dann werde ich eben unwissend sterben«, erwiderte Kendra trocken, schnappte sich ein neues Tagebuch von dem Stapel und schlug es auf. Sie konnte spüren, wie Seth sie beobachtete, während sie vorgab zu lesen.
»Hast du schon mal was von Nipsis gehört?«, fragte Seth schließlich.
»Nein.«
»Sie sind das kleinste Feenvolk, das es gibt«, informierte er sie. »Sie legen kleine Städte an und so was. Sie sind knapp einen Daumenbreit groß. Wie kleine Käfer.«
»Cool«, meinte Kendra und fuhr fort, offensichtliches Desinteresse zur Schau zu stellen, während sie den Blick über die Seiten schweifen ließ. Es dauerte selten lange, bis Seth klein beigab.
»Wenn du wüsstest, dass eventuell Gefahr im Verzug ist, es dir aber Ärger eintragen könnte, wenn du es
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