Die Schattenplage
den weltgrößten Abenteurer bezeichnet.
Er schilderte ganz offen sein Werben um Lena und die Entschlossenheit, sie zu seiner Braut zu machen, beschrieb die langsamen Fortschritte, die er erzielte, wenn er ihr auf seiner Geige etwas vorspielte, Gedichte für sie verfasste, sie mit Geschichten köderte oder in Gespräche verwickelte. Er war eindeutig von ihr besessen, wusste, was er wollte, und wurde nicht müde, bis sie die Seine war. Im Moment las Kendra den Eintrag, der den Höhepunkt der Romanze beschrieb:
Erfolg! Sieg! Jubel! Ich sollte nicht länger am Leben sein, obwohl ich mich noch nie zuvor lebendiger gefühlt habe! Nach den ermüdenden Monaten, nein, Jahren des Wartens, des Hoffens, des Mühens, liegt sie in einem Zimmer in meinem Haus, während ich diese überschwenglichen Zeilen niederschreibe. Noch vermag ich es selbst nicht recht zu glauben. Nie ist eine schönere Maid auf festem Boden gewandelt als meine geliebte Lena. Nie war ein menschliches Herz zufriedener als meines.
Ich habe ihre Zuneigung heute unwissentlich auf die Probe gestellt. Es beschämt mich, meine Torheit zu gestehen, aber die Schande wird überflügelt durch meine Freude. Während ich mit dem Boot auf dem Teich war, beugte ich mich zu nah über meine Liebste, und ihre erbärmlichen Schwestern nutzten meine Torheit prompt aus und zogen mich über Bord. Noch heute Nacht sollte ich in einem kalten Grab schlummern. Im Wasser war ich ihnen in keiner Weise gewachsen. Aber meine Liebste kam mir zu Hilfe. Lena war prachtvoll! Sie bezwang nicht weniger als acht der wässrigen Maiden, um mich aus ihren Fängen zu befreien und ans Ufer zu bringen. Um das Wunder zu vollenden, gesellte sie sich zu mir an Land, nahm endlich meine Einladung an und entsagte ihrem Anspruch auf Unsterblichkeit.
Denn was ist schon Unsterblichkeit, wenn sie sich auf einen traurigen kleinen Teich mit so engherzigen Gefährtinnen beschränkt? Ich werde ihr Wunder enthüllen, die andere ihrer Art sich nicht einmal vorstellen können. Sie soll meine Königin sein und ich ihr inbrünstigster Bewunderer und Beschützer.
Ich nehme an, ich sollte ihren gehässigen Schwestern dafür danken, dass sie danach getrachtet haben, mir das Leben zu nehmen. Wäre es nicht zu einer solch ernsten Situation gekommen, hätte ich Lena vielleicht niemals dazu gebracht, etwas zu unternehmen!
Es ist meiner Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass viele um mich herum meine Liebe hinter meinem Rücken verspotten und schmähen. Sie erwarten nichts anderes als eine Wiederholung der unglücklichen Eskapade, die meinen Onkel einst dem Untergang weihte. Wenn sie nur die Wahrhaftigkeit meiner Zuneigung kosten könnten! Dies ist keine armselige Tändelei mit einer Dryade, kein kleines Liebesabenteuer, über die Maßen aufgebläht. Die Geschichte von damals wird sich nicht wiederholen; vielmehr soll für alle Zeiten ein neuer Standard der Liebe aufgestellt werden. Die Zeit wird meine Hingabe beweisen! Darauf würde ich mit Freuden selbst meine Seele setzen!
Ganz gleich, wie oft Kendra diese Worte las, sie berauschten sie jedes Mal aufs Neue. Natürlich fragte sie sich, ob eines Tages ein Mann auch für sie solch starke Gefühle hegen würde. Da sie auch Lenas Seite der Geschichte kannte, wusste Kendra, dass Pattons Liebe im Laufe ihrer lebenslangen Romanze erwidert worden war. Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken zu Warren – er sah gut aus und war ebenso mutig wie witzig. Aber leider war er viel zu alt und außerdem ein, wenn auch entfernter, Cousin von ihr!
Kendra blätterte weiter, genoss den Geruch des alten Papiers und konnte gar nicht anders, als zu hoffen, dass sie eines Tages jemanden wie Patton Burgess finden würde.
Auf dem Nachttisch neben ihrem Bett stand eine Umitenkerze. Vanessa hatte sie mit Umitenwachs vertraut gemacht, einer von in bienenstockähnlichen Gemeinschaften lebenden südamerikanischen Feen produzierten Substanz. Wenn man mit einem Stift aus Umitenwachs schrieb, waren die Worte unsichtbar, außer man las sie im Licht einer Kerze, die ebenfalls aus Umitenwachs gemacht war. Vanessa hatte damit ihre letzte Botschaft auf den Boden ihrer Zelle geschrieben und außerdem – wie Kendra entdeckt hatte – auch Notizen in den Unterlagen gemacht, die sie studiert hatte.
Wann immer Kendra nun die Kerze entzündete, sah sie, welche Informationen Vanessa als wichtig erachtet hatte und welche ihr eine Randbemerkung wert gewesen war. So war sie auf mehrere falsche Spuren gestoßen,
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