Die Schattenritter: Kuss der Dunkelheit
kürzlich jemand an dieser Stelle gewesen. Marikas Herzschlag beschleunigte sich. Hier würde sie finden, was Bishop hergebracht hatte.
Ihre Hoffnungen wurden jäh zerschmettert, als sie das Grab sah. Vampire in Bishops Alter ruhten nicht in Gräbern – es sei denn, es handelte sich um ihre eigene Gruft. Und nur die übelsten Kreaturen würden ein echtes Grab schänden. Marika selbst hatte es bloß ein einziges Mal getan, weil der Mensch, der dort begraben war, der angeblich tot und in Frieden ruhen sollte, im Begriff gewesen war, als Vampir aufzuerstehen.
Dies war nicht Bishops Grab. Der Boden war nicht aufgewühlt worden, es sei denn, sie zählte das Unkraut und die kleinen Mooshäufchen mit, die beiseitegeworfen worden waren. Nein, dieses Grab war unlängst gepflegt, nicht geschändet worden.
»Elisabetta Radacanu«, las sie laut, »1583 geboren, gestorben 1624.«
Roxana klatschte sich die Hand auf den Mund. »Das ist sie!«
Marika sah sie verwundert an. »Du weißt, wer diese Frau ist?«
Roxana nickte heftig, dann sprudelte es aus ihr hervor: »Sie war
seine
Geliebte!«
»Bishops?« Sofort schüttelte Marika den Kopf, denn ihn bei seinem Namen zu nennen beschönigte das, was er wirklich war und was ihn zum Unmenschen machte. »Von dem Vampir?«
Wieder nickte Roxana und drehte sich gleichzeitig zu der Ruine um. »Das muss ihr Haus gewesen sein.«
Auch Marika drehte sich um und betrachtete die Ruine. Womöglich hatte einst ein Feuer das Haus zerstört, jedenfalls war es jetzt nichts weiter als ein erbärmlicher Unterschlupf für fahrende Leute und streunende Tiere.
Der Vampir hatte hier gelebt? Es fiel ihr schwer, ihn sich in einer häuslichen Umgebung vorzustellen. Sicher hatte er sich über das Dorf lustig machen wollen, indem er dort gewohnt und so getan hatte, als wäre er menschlich, während er auf die Bewohner Jagd machte.
»Manche erzählen, sie sei gestorben, als er versuchte, sie zu retten«, sagte Roxana, deren Augen ganz groß wurden, als würde sie gerade eine Geistergeschichte vor sich entstehen sehen. »Andere behaupten, er habe sie geopfert, um sich selbst zu retten.«
Marika schnaubte verächtlich. »Ich weiß schon, welche Version ich glaube.« Kein Vampir würde jemals menschliches Leben über sein eigenes stellen.
Doch nun sah Roxana auf das alte Grab. »Ich frage mich, wer sie begrub.«
»Wahrscheinlich ihre Angehörigen – diejenigen jedenfalls, die auch diesen Grabstein gemacht haben.« Das war vor Jahrhunderten, also sollte es unerheblich sein.
»Aber da steht ›Meiner geliebten‹.«
»Du meinst, der Vampir hat sie begraben?«, fragte Marika schärfer als beabsichtigt, während sie versuchte, nicht zu denken, was sich ihr aufdrängte. »Du wirst nie eine ordentliche Jägerin abgeben, wenn du ihnen unterstellst, sie hätten Gefühle. Roxana, wenn du nicht tot oder schlimmer enden willst, als Vampir gar, darfst du nicht vergessen, dass sie nicht menschlich sind!«
Roxana sah aus, als hätte Marika ihr eine Ohrfeige versetzt. »Sie waren es aber doch einmal! Du hast selbst gesagt, dass man den Feind verstehen muss, um ihn jagen zu können.«
Mit diesen Worten stapfte Roxana davon und ließ Marika zurück. Wie wundervoll! Jetzt hatte sie ihre Gefühle verletzt. Dabei sagte Marika doch die Wahrheit. Roxana mochte recht damit haben, dass es bisweilen angeraten war, sich die eigene Menschlichkeit zu bewahren, aber diese naive romantische Einstellung würde sie noch das Leben kosten. Keine zwei Minuten könnte sie angesichts eines echten Monstrums bestehen.
Elisabetta Radacanu hatte sterben müssen, weil sie sich mit einem Vampir eingelassen hatte. Vollkommen unschuldig konnte sie nicht gewesen sein, und so grausam ihr Tod auch war, sie hatte ihn durch ihr Handeln herbeigeführt.
Sobald sie wieder in ihrer Unterkunft waren, müssteMarika sich mit Dimitru unterhalten. Roxana sollte baldmöglichst ein paar junge Männer aus dem nahen Dorf kennenlernen. Für Marika wäre es eine ungemeine Erleichterung, Roxana verheiratet und unter dem sicheren Dach ihres Ehemanns zu wissen.
Dem Druck in ihrem Kopf sowie der zunehmenden Hitze auf ihren Wangen und ihrer Nase nach zu urteilen, täte Marika gut daran, aus der Sonne zu gehen. Sie wollte sich auf keinen Fall verbrennen, weil dadurch jeder Aufenthalt im Freien vorerst zu einem sehr schmerzhaften Unterfangen würde.
Nachdem sie sich die Kette mit dem Kreuz wieder angelegt hatte, warf Marika einen letzten Blick auf das Grab. Kürzlich
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