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Die Schattenseherin: Roman (German Edition)

Die Schattenseherin: Roman (German Edition)

Titel: Die Schattenseherin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Hunter
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sie achtlos auf seinem Weg.
    Er hielt an, als er einen alten Brunnen erreicht hatte. Früher hatte er vielleicht einmal zu einem Haus oder einem Gehöft gehört, aber falls es so gewesen war, waren die Mauern längst zu Staub zerfallen und die Menschen darin gleich mit. Der Gedanke ließ Zoe schaudern.
    Auch Cale spürte einen Hauch Angst, aber Zoe fühlte, wie er sich zusammenriss und den Rand des Brunnens packte. Er bestand aus groben Steinen, die man irgendwie aufeinandergeschichtet hatte, damit sie einen Rand bilden konnten. Moos und Flechten hatten sich darauf festgesetzt, und lose Steinchen fielen aus den Zwischenräumen und mit leisem Klackern hinunter in das schwarze, gähnende Loch des Brunnens, als Cale seine Hände an den Brunnenrand klammerte. Das Loch wirkte wie ein einzelnes Auge, das Cale entgegensah und ihn aufmerksam betrachtete.
    »Kehr um«, schrie Zoe. »Lass den Blödsinn und geh zurück zu Eloise!« Alles in ihr drängte sie zu gehen, die Vision abzubrechen. Was auch immer dort unten in diesem Brunnen hockte – Zoe wollte nicht dabei sein, wenn es herauskam. Doch Cale dachte gar nicht daran zu gehen. Er beugte sich vor und rief so laut er konnte: »Monster! Es heißt, du suchst Handel!«
    Die Worte prallten wie Bälle an den Wänden des Brunnens ab, fielen tiefer und immer tiefer, bis Finsternis sie verschluckte. Cale wartete ab, und auch Zoe lauschte angestrengt. Nichts geschah. »Verdammter Dämon, komm endlich aus deinem Loch gekrochen und hilf mir!«, brüllte Cale abermals verzweifelt. Zoe ahnte, wie viel Hoffnung er an diese irrwitzige Möglichkeit gehängt hatte, und wie enttäuscht er sein musste, weil er nun erkennen musste, dass diese Geschichte eben genau das war – nichts weiter als eine Legende.
    Cale sackte in sich zusammen und lehnte die Stirn gegen die moosigen Steine. »Hilf mir. Nimm sie mir nicht weg«, murmelte er, und nicht einmal Zoe wusste, wen genau er jetzt meinte. Es dauerte einige Zeit, bis Cale sich so weit gefasst hatte, dass er sich wieder aufrichten konnte. Erleichtert merkte Zoe, dass Cale sich zum Gehen wandte – und erstarrte förmlich, als sie sich einem riesigen schwarzen Schatten gegenübersah, der sich auf sie stürzte. Auch Cale erschrak und wich instinktiv zurück, doch er hatte den Brunnen vergessen. Der Rand schlug gegen seine Beine, und Cale strauchelte. Er suchte wild mit den Händen nach Halt, aber seine Finger glitten an dem eisigen Moos ab, und er verlor das Gleichgewicht – sein langer Schrei und Zoe waren seine einzigen Begleiter, als er in den Brunnen stürzte.
    In ihrem Zustand fühlte Zoe selbst keinen Schmerz, aber sie fühlte Cales und mit ihm auch seine Angst. Den Aufprall hatte er gut überstanden, auch wenn sein Kopf dröhnte und er an einigen Stellen auf Armen und Rücken warmes Blut spürte, das sich mit dem niedrigen, brackigen Wasser des Brunnens mischte.
    Er stand wackelig auf und tastete sich ab. Anscheinend war wirklich nichts gebrochen. Erst als er sich sicher war, unverletzt zu sein, tastete er seine Umgebung ab. Alles, was er fand, war glatter, nasser Stein. Er ging im Kreis umher, in der Hoffnung, irgendeinen Vorsprung oder einen losen Stein zu finden, an dem er sich hätte hochziehen können, doch seine Bemühungen waren umsonst. Er saß hier fest.
    Cale ließ sich einfach wieder auf den Boden sinken und fuhr sich durch die Haare.
    Zoe spürte fast so etwas wie Neugierde. Sie wusste, dass Cale irgendwie wieder aus dieser Situation herausgekommen sein musste, denn sie hatte ihn gesehen – als lebendigen, gesunden Mann. Aber sie konnte nur Tode im Blut anderer Wesen lesen. Was also war passiert? Ihre Antwort erhielt sie schneller, als ihr lieb war. Ein Augenpaar glühte gespenstisch rot neben Cale in der Dunkelheit auf. Zoe hörte Cale keuchen. Er wich zur Mauer zurück. »Weiche, Dämon!«, rief er.
    Heiseres Lachen antwortete ihm. »Gerade warst du aber noch wesentlich verhandlungsfreundlicher«, knurrte eine raue Stimme, die Zoe alle Haare zu Berge stehen ließ. Sie kannte diese Stimme. Sie hatte sie bereits einmal in ihrem Traum gehört – in der ersten Nacht, in der Cale in ihren Träumen aufgetaucht war.
    Cale atmete scharf ein und versuchte zu sehen, aber er und Zoe konnten nur die Augen erkennen, die sich ihnen näherten. »Lass mich hier raus!«, verlangte er, aber seine Stimme war nicht fest. »Weiche, Dämon, und lass einen Christenmenschen in Frieden ziehen!«
    »Wenn ich das tue, wird deine Frau binnen eines

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