Die Schattenseherin: Roman (German Edition)
denen sie lag. Früher war sie sicherlich einmal schön gewesen, mit den fein geschwungenen dunklen Augenbrauen und dem herzförmigen Mund. Aber eine lange Krankheit hatte die Schönheit zerstört und aus hohen Wangenknochen fahle eingefallene Wangen gemacht und den herzförmigen Mund durch den Schmerz verzerrt.
Zoe, in Cales Körper, sah, wie er die Hand der Frau nahm und sie an seine Lippen führte. »Halt nur noch ein bisschen durch, Eloise«, flüsterte er. »Sharren ist bald mit dem Arzt aus Edinburgh zurück und dann ...«
»Ich werde lange tot sein, wenn der Arzt hier ankommt«, unterbrach ihn die Frau sanft. Ihre Stimme war ein wenig kratzig, aber sonst erstaunlich melodiös. Sie passte nicht zu ihrem Zustand. »Das weißt du genauso gut wie ich, mein lieber Dummkopf.«
»Nein«, widersprach Cale laut, doch Eloise schüttelte den Kopf. Eine winzige und sehr müde Geste. Sie drückte seine Hand, die die ihre hielt. Es war kaum mehr als ein winziger Hauch.
»Nein«, wiederholte Cale. »Du wirst nicht einfach sterben. Nicht, wenn es noch irgendeinen Weg gibt, das zu verhindern. Ich rette dich und wenn ich dafür einen Pakt mit dem Teufel eingehen muss!«
Zoe war ebenso erschrocken über Cales Worte, wie es Eloise zu sein schien. »Sag so etwas nicht«, murmelte sie. »Solche Reden locken den Teufel und seine Kinder an.«
»Sollen sie doch – solange sie dich nur retten«, knurrte Cale.
Eloise antwortete nicht. Anscheinend war sie eingeschlafen.
Cale verließ das Haus, und Zoe war wohl oder übel bei ihm. Sie wunderte sich, dass sie noch immer in ihm steckte – das hier war möglicherweise Eloises Tod, aber Cale sah nicht so aus, als würde er binnen der nächsten zehn Sekunden sterben. Die übliche Zeit ihrer Visionen war lange vorbei.
Was war hier los?
Cale bemerkte von all dem nichts. Er war vollkommen in seine Sorge um Eloise gefangen und stolperte durch die Nacht. Zoe brach es das Herz, ihn so zu sehen. Er litt, und es gab nichts, was sein Leid irgendwie lindern konnte.
Trotz der Dunkelheit der Nacht bewegte er sich sicher. Zoe spürte seine Liebe zu diesem Fleck Boden. Hier befand sich alles, was er besaß und was er liebte – seinen Hof, seine Felder und Eloise. Doch nun würde ihm eines davon genommen werden.
Sie spürte, wie Verzweiflung sich mit Angst mischte und zu gärender Wut wurde. Cale wollte irgendetwas finden, dem er die Schuld geben konnte. Aber sie wusste aus eigener Erfahrung, dass so etwas niemals gut war. Die größten Fehler wurden in einem solchen Zustand begangen. Und Cale war gerade dabei, genau das zu tun.
Er verließ den Hof und ging, ohne Fackel oder Laterne, weiter. Zoe konnte durch seine Augen sehen, dass er sich hervorragend orientierte, nur anhand des Lichts des Mondes und der wenigen Sterne. Ihr Licht war fast ebenso kalt wie die Luft, aber Zorn und Wut ließen Cale nicht das Geringste spüren. Sie konnte das nur zu deutlich fühlen.
Cales Weg führte ihn an einer winzigen Kapelle vorbei. Es war kaum mehr als ein Holzverschlag, in dessen Innern man ein Kruzifix aufgehangen hatte. Erster Raureif begann sich an den dürren ausgestreckten Armen und mit Nägeln versehenen Füßen der Figur zu bilden. Sie glitzerte leicht.
Cales Wut fand ein Ventil. Zoe spürte, wie ein Erinnerungsfetzen sich aus den Tiefen seines Bewusstseins schälte und langsam an die Oberfläche stieg. Es war eine Erinnerung an lange Winterabende, Feuer im Ofen und Geschichten, die erzählt wurden. Geschichten von Kelpies, von Fae, von Geistern, Monstern und Göttern. Und auch eine Geschichte über ein Ungeheuer, das man in solchen Nächten im alten Hain fand, nicht unweit vom Dorf Sinchairn. Man sah es nie, doch seine Stimme war deutlich für jeden zu hören, der zu einem Handel bereit war und Gott weit hinter sich gelassen hatte.
Angewidert spuckte Cale vor der Kapelle auf den Boden und wandte sich zielstrebig in Richtung des Hains. Zoe versuchte, ihn irgendwie aufzuhalten. Was auch immer Cale sich von diesem Ammenmärchen erhoffte, es würde schiefgehen. Doch wie sonst auch war Zoe nur der Platz als Zuschauerin zugedacht. Sie konnte die Vergangenheit nicht verändern, auch wenn sie es, wie jetzt, so dringend wollte. Alles in ihr sträubte sich, als Cale den Hain betrat und ihn fast bis zur Hälfte durchquerte. Tote, verdorrte Blätter lagen auf dem Boden und knirschten unter seinen Schritten. Auch sie waren gefroren, und Eiskristalle hingen wie winzige Speere an ihren Rändern. Cale zertrat
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