Die Schattensurfer (German Edition)
noch einmal im flauschigen Bettschaum. Schon lange hatte er nicht mehr so gut geschlafen. Dann kletterte er aus dem Bett. Mit den Fingern brachte er seine Frisur in Ordnung. Luan machte sich auf den Weg die anderen zu suchen und hoffte ein ordentliches Frühstück zu finden.
8 KRISTALLUNTERRICHT
Montagmorgen, erste Stunde. Nicht der alte Geschichtslehrer in seiner abgeschabten Cordhose und dem karierten Hemd schlurfte herein, sondern ein junger Mann riss die Tür auf. Sein schwarzer Anzug saß perfekt. Auf dem ledernen Stirnband funkelte ein dunkelblauer Kristall. Seine hellblonden Haare waren so exakt geschnitten, als wären sie mit Zirkel und Lineal vermessen. Er trat hinter das Lehrerpult und wippte auf den Zehenspitzen. Seinen Rücken drückte er durch wie ein Reckturner. Er sagte kein Wort, trotzdem stand die ganze Klasse auf. Sansibar ertappte sich dabei, wie sie versuchte, genauso gerade zu stehen, ihre Hände nicht auf den Tisch aufzulegen.
„Sein Kristall“, hauchte Marella. „Er trägt einen dunkelblauen Kristall, fast schon schwarz, dabei ist er höchstens dreißig.“
Sansibar nickte ehrfürchtig. Einen blauen Kristall in dem Alter. Das hatte sie noch nie gesehen.
„Setzt euch, Kinder“, sagte der Mann und lächelte charmant. Leise glitten die Kinder auf ihre Stühle. Ihre Blicke klebten an seinem Kristall.
Er wippte noch einmal auf seinen Zehenspitzen. Dann fuhr er fort: „Ich heiße Tornham, Doktor Tornham. Ich arbeite im Kristallamt und darf euch auf eure Kristallfeier vorbereiten. Wie ich sehe, besitzen drei von euch bereits den Kristall. Ihr seid schon vollwertige Mitglieder der Gesellschaft und gehört zu RUHL. Richtig erwachsen seht ihr drei aus. Wenn ihr wollt, könnt ihr mir helfen, den Unterricht zu gestalten. Ansonsten lasst euren Gedanken freien Lauf. Unterstützt die Gesellschaft. RUHL wird es euch danken.“
Marella reckte ihren Kopf mit dem durchsichtigen Kristall auf dem Stirnband stolz in die Höhe.
Sansibar fühlte, wie sich Neid aus dem Innersten ihres Bauches nach außen fraß. Warum hatte sie noch keinen Kristall? Sie wollte endlich auch zu RUHL gehören.
Marella zwinkerte ihrer Freundin zu: „Ich glaube, mein Kristall hat schon eine ganz leichte Gelbfärbung. Was meinst du? Ein Hauch von Kamille?“
Sansibar warf einen giftigen Blick auf Marellas Kristall. Mit zusammengekniffenen Lippen zischte sie: „Tut mir leid, Marella, aber ich sehe kein bisschen Gelb.“
„Liegt vielleicht am Licht“, flüsterte Marella und streckte ihre Stirn mit dem Kristall wie ein Einhorn in die Luft.
„Ruhe, ich bitte um Ruhe“, sagte Doktor Tornham und klopfte mit den Fingerknöcheln auf das Lehrerpult. Unmerklich verengten sich seine Augen, als er einen Blick auf Sansibar warf.
Wie eine Schildkröte zog sie den Kopf ein. Innerlich kochte Sansibar. Marella benahm sich wirklich zu dämlich. Nur wegen ihrer Freundin hatte sie schon einen Anschiss bekommen.
„Liebe Kinder, Großes steht euch bevor“, fuhr Doktor Tornham fort, als wäre er selbst ganz aufgeregt. „Bald werdet ihr eure Kristallfeier begehen. RUHL nimmt euch in die Gesellschaft auf. Dann seid ihr keine Kinder mehr. Ich weiß, ihr brennt alle darauf, mit euren Gedanken der Gesellschaft zu helfen. Doch bevor es so weit ist, darf ich euch auf den großen Tag vorbereiten.
Heute wenden wir uns RUHLs Anfängen zu. Damals, vor fast 50 Jahren, zu Beginn dieses Jahrtausends, stellte niemand seine Gedanken der Gesellschaft zur Verfügung. Jeder lebte für sich, war auf sein eigenes Leben bedacht, schielte nur nach seinem Vorteil.
Wissenschaftler hatten herausgefunden, dass 95 Prozent aller menschlichen Gedanken verschwendet wurden. Einfach so im Nichts verpufften, für unsinnige Tagträume verwendet wurden, Gedanken, die keinem etwas nützten. Niemand wollte seine Ideen teilen. Niemand bemühte sich um die Gesellschaft.
Deshalb sprechen Wissenschaftler bis zum Jahr 2000 von der Dunklen Zeit. Erst danach traten allmählich Veränderungen im Verhalten der Menschen ein.
Über das damalige Internet begannen die Menschen ihre Ideen und Gedanken für alle zu veröffentlichen, stellten Wissen zusammen, besprachen mit anderen Menschen wichtige Dinge. So wie ihr es jeden Tag macht.“
Die meisten Kinder drehten den Arm und blickten auf ihren Kommunikator. Auch Sansibar wischte über ihr TwaddleBand. Das Bild ihres Vaters leuchtete auf und eine Textwolke legte sich darüber: „Bitte Blitzpizzapulver für das Abendessen
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