Die Schattensurfer (German Edition)
denken, wie sie ihn angelächelt hatte. Doch nach ihrer Kristallprüfung würde Sansibar wie alle anderen ein Teil von RUHL sein – ein ordentliches Mitglied der Gesellschaft. Er würde sie nie mehr sehen können, denn all ihre Gedanken landeten im Zentralcomputer von RUHL. Trotzdem konnte es Luan nicht lassen. Mit Zeigefinger und Mittelfinger strich er über sein ceeBand, unauffällig, damit ihn niemand sah. Schnell hatte er Sansibars Adresse herausgesucht. Natürlich war sie online. Vielleicht konnte er sie noch ein letztes Mal vor ihrer Kristallprüfung erreichen. „Was machst du da?“, schimpfte Nele, die plötzlich neben ihm stand. Luan schob seine Hand über das ceeBand und stänkerte: „Auch wenn ich jetzt deine Wandernden Wände programmiere, gehen dich meine Privatsachen nichts an.“
„Schon gut. Reg dich nicht auf. Ich meine ja nur, weil die Zeit knapp ist.“ Grummelnd drehte Luan Nele den Rücken zu und zog den Blitzmaster auf seinen Schoß. Von der würde er sich überhaupt nichts befehlen lassen. Und als Nele gegangen war, tippte er wieder heimlich in sein ceeBand.
20 AUSGEKNIPST
Natürlich traute sich Sansibar nicht, nach Hause zu gehen. Sie würde Papa erzählen müssen, dass das teure Stirnband weg war. Papa würde nicht schimpfen. Er schimpfte nie. Aber sie wollte Papa nicht enttäuschen. Papa würde sein komisches Gesicht machen, das mit den Wolkenfalten auf der Stirn.
Und wenn der Hausdienst das Stirnband gleich heute Nachmittag finden würde, wäre das auch nicht besser.
Wütend schnauzte Sansibar einen alten Mann an, der aus Versehen seinen Gehstock auf ihren Fuß stellte. Sie ärgerte sich über RUHL. Ihre Erinnerungen an Mama gingen niemanden etwas an. Die würde sie für sich behalten.
Schon eine ganze Stunde war sie durch die Einkaufsstraße in der Innenstadt geschlichen. Sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Zwischen den vielen Menschen, die durch die Straße schoben, fühlte sie sich einsam. Niemand nahm Notiz von ihr.
Sie musste Marella einweihen. Marella würde sie verstehen. Marella war doch ihre Freundin.
„Hab ein kleines Problem“, tippte sie in ihr TwaddleBand und schickte die Nachricht an Marella. „Hast du Zeit zu quatschen?“
„Hab’s mir schon gedacht“, meldete sich Marella. „Du warst vorhin so kurz angebunden. Was ist los? Hast du die Prüfung vergurkt?“
„Bin abgehauen. Wollte meine Gedanken für mich behalten“, antwortete Sansibar.
„Abgehauen? Spinnst du?“
„Na ja, so ähnlich. Ich habe mein Stirnband in die Toilette fallen lassen und dann gespült. Jetzt sucht es der Hausdienst.“
„Dein Stirnband in der Toilette versenkt? Bist du komplett bescheuert?“
„Ja, aber sie denken, es war ein Versehen. Mir war furchtbar übel. Ich bin auf die Toilette gegangen und dabei ist es passiert.“
„Dann wartest du, bis sie dein Stirnband wieder gefunden haben. Bestimmt finden sie es. Im Kristallamt gibt es keine Geheimnisse. Und wenn sie es gefunden haben, gehst du zu deiner Initialisierung. Alles wird gut.“
„Ich will aber nicht. Meine Gedanken gehören mir.“
„Warum bist du so egoistisch, Sansibar? Du musst der Gesellschaft helfen. Wo stünden wir, wenn jeder seine Gedanken einsperren würde?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, plapperte Marella weiter: „Wir wären noch im dunkeln Zeitalter. Hab ich dir eigentlich schon einmal von meinem Cousin Djerbo erzählt. Djerbo ist jetzt fast 40. Damals vor seiner Initialisierung hatte er schreckliche Angst, sich RUHL anzuvertrauen. Das war richtig schlimm, krankhaft. Die Ärzte stellten eine schwere Form von Disinformie fest.
Djerbo wollte keinen einzigen Gedanken teilen. Er wollte alles nur für sich behalten. Eines Tages weigerte sich Djerbo sogar zu reden. Von da an blieb er stumm. Die letzten Worte an seine Mutter waren: Nur wenn ich schweige, bleiben meine Gedanken bei mir. Er benutzte fortan keinen Computer mehr, schrieb nichts auf und zeichnete keinen einzigen Strich. Du kannst dir vorstellen, dass das in der Schule mit einer Katastrophe endete. Djerbo antwortet keinem Lehrer mehr und verweigerte jeden Test. Die Lehrer verzweifelten an ihm. Sie konnten ihm keine Noten geben. Schließlich warf ihn der Direktor aus der Schule. Djerbo könnte jederzeit zurückkommen, wenn er wieder spräche, sagte der Direktor. Aber so ginge das nicht weiter.
Djerbos Eltern waren verzweifelt. Sie packten ihren Sohn, der sich wie ein Löwe wehrte, und fuhren ihn ins Kristallamt. Irgendjemand
Weitere Kostenlose Bücher