Die Schattenträumerin
unterdrücken. So langsam machte sich der Schlafentzug bemerkbar. Heute Abend würde sie sicherlich keine Probleme mit dem Einschlafen haben. »Immerhin müssen wir uns auf die mystische Kraft von Kerzenständern und Kaffeelöffeln verlassen.« Sie drehteden Kopf zu Gianna. »Meinst du, den anderen fällt auf, dass die Sachen fehlen?«
Gianna winkte ab. »Mama und Viola tragen fast nie Schmuck. Sie werden überhaupt nicht bemerken, dass wir uns etwas aus ihren Schmuckschatullen ausgeliehen haben. Und das Tafelsilber wird nur an Festtagen benutzt. Abgesehen davon lassen wir uns nicht von irgendwelchen silbernen Kaffeelöffeln beschützen – diese tragen immerhin unser Familienwappen.« Gianna setzte sich wieder auf. »Jetzt gehen wir Nonna besuchen und danach in die Bibliothek, okay?« Ihr Gesicht glühte vor Unternehmungslust. »So etwas Spannendes habe ich noch nie erlebt. Das ist alles so unglaublich aufregend!«
»Mhm«, antwortete Francesca wortkarg. Sie konnte Giannas Begeisterung nicht so recht teilen. Trotz der gestrigen Ereignisse schien Gianna nicht bewusst zu sein, dass es sich bei all dem nicht nur um ein Abenteuerspiel handelte. Sie hatten zwar einen Weg gefunden, der Macht des Buches Grenzen zu setzen, doch Francesca ahnte, dass sie damit noch lange nicht alle Gefahren beseitigt hatten.
Francesca wedelte vor ihrem Gesicht herum. Die Sicht wurde um keinen Deut besser. »Das ist doch kein Nebel, Gianna«, widersprach sie schnaubend. »Das fühlt sich an, als ob man durch eine Wolke laufen würde. Während wir im Krankenhaus waren, muss der Himmel auf die Stadt gefallen sein!«
Es war zwar schon vorher neblig gewesen, doch nun, am späten Nachmittag, war es eindeutig schlimmer geworden.
»Das ist noch gar nichts.« Gianna winkte ab. »Wenn es richtig schlimm wird, muss sogar die Schifffahrt eingestellt werden. Hoffentlich bekommen Matteo und Luca keine Probleme«, fügte sie sorgenvoll hinzu.
Ihre Cousins waren am Nachmittag mit dem Boot nach Murano, einer der umliegenden Inseln Venedigs, gefahren. Sie sollten bei einem Freund ihres Vaters gebrauchte Laminatplatten für die neuen Gästezimmer abholen.
»Du hast doch nicht etwa Angst um die beiden?«, frotzelte Francesca.
»Um Luca natürlich nicht«, widersprach Gianna sofort. »Aber um Matteo würde es mir leidtun. Schon allein wegen seines Weltrekordversuchs. Heute Morgen hätte er sich von Viola fast eine Ohrfeige eingefangen, weil er Nonna ›Gute Besserung‹ ins Gesicht gerülpst hat.«
Francesca lächelte in sich hinein. Matteos Durchhaltevermögen war in der Tat zu bewundern.
Durch den Nebel herrschte eine seltsame Stille in Venedig. Die Stadt war wie in Watte gepackt. Denn nicht nur die Sicht war beeinträchtigt, selbst die Alltagsgeräusche der Stadt klangen gedämpft und die Nebelhörner der Schiffe hallten wie grollende Rufe eines Seeungeheuers durch die Kanäle und Gassen.
»Francesca, pass auf!«
Sie hatte gerade nach links abbiegen wollen, als Giannas Ruf sie aus ihren Gedanken schreckte. Alarmiert sah sich Francesca um. Sie stand direkt vor den beiden Granitsäulen auf der Piazzetta, doch durch den Nebel konnte sie kaum etwas von ihrer näheren Umgebung erkennen.
Gianna trat neben sie. »Du weißt doch, dass es Unglück bringt, wenn man zwischen den Säulen hindurchgeht!«, erklärte sie in mahnendem Tonfall. »Hier wurden früher Menschen hingerichtet.«
»Deswegen erschreckst du mich so?«, stöhnte Francesca und verdrehte die Augen. »Himmel, Gianna, ich dachte schon, dass wir in Gefahr sind. Bist du etwa abergläubisch?«
»Nein, natürlich nicht«, versicherte Gianna nach kurzem Zögern. »Aber es schadet auch nicht, wenn wir uns an diesen alten venezianischen Brauch halten, oder?«
Sie zog Francesca seitlich an den Säulen vorbei in das Gebäude der Biblioteca Nazionale Marciana, das dem Dogenpalast genau gegenüberlag. Ehrfürchtig trat Francesca durch das Eingangsportal, das von etwa drei Meter hohen Statuen flankiert wurde. Gianna, die schon oft in der Bibliothek und gegen ihren Prunk immun war, verstaute ihren Rucksack in einem der Holzschließfächer und gemeinsam stellten sie sich in die Schlange vor dem Pförtnerhäuschen.
Ungeduldig sah Francesca nach vorne. Dort stand eine Frau mit schwarzen schulterlangen Haaren. Sie war etwa im Alter ihrer Mutter und redete gerade verzweifelt auf die Bibliothekarin ein. »… bitte, nur ganz kurz. Ich bin eine deutsche Schriftstellerin und in der Bibliothek soll eine Szene
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