Die Schattenträumerin
Luftzug ihres Atems strich dabei über meine Wange. Sofia! …
Als Gianna und Francesca zwei Stunden später aus der Bibliothek traten, dämmerte es bereits. Francesca blieb einen Moment stehen und atmete dankbar die frische Luft ein. Die Nebelschwaden hingen immer noch bewegungslosüber der Piazza San Marco und verwischten die Umrisse der prächtigen Gebäude.
»Und?«, fragte Gianna ungeduldig. »Konntest du etwas herausfinden?«
Francesca steckte die Hände in die Taschen und zuckte mit den Schultern. »Ich bin mir nicht sicher. Offen gestanden ist mir beim Lesen schon etwas mulmig geworden.«
Während sie die Piazza San Marco verließen und in das anliegende Gassengewirr eintauchten, begann Francesca vom Inhalt der »Chronik des Unglücks« zu erzählen. Den Anfang bildete die Erzählung Rafaels von dem besagten schicksalhaften Morgen – seiner Flucht in die Baustelle der Procuratie Nuove, dem Fluch, der zum Leben erweckten Statue und den beiden Gehängten, die vom Rat der Zehn hingerichtet worden waren. Danach berichtete die Chronik hauptsächlich von den Unglücken, die Venedig im Laufe der folgenden Jahrhunderte heimgesucht hatten, und die waren in der Tat zahlreich. War Venedig bis dahin die größte europäische Stadt gewesen, deren Reichtum, Einfluss und Schönheit legendär gewesen war, so welkte sie plötzlich dahin. Sie verlor ihre führende Position als Handelsgroßmacht, musste ihre Kolonien aufgeben und wurde mehrmals von schweren Pestwellen heimgesucht. Napoleon Bonaparte gelang es schließlich, Venedig zu besetzen und damit war Venedigs Unabhängigkeit und Freiheit für immer verloren. Nach über 1000 Jahren wurde die Republik Venedig aufgelöst und der letzte Doge musste abdanken. Doch damit endete nicht etwa die »Chronik des Unglücks«. Auch in den folgenden Jahrhunderten berichtetendie Aufzeichnungen von Besetzungen, Plünderungen, Verarmung, Cholera und Hochwasserkatastrophen. Erdbeben und Blitzeinschläge beschädigten den Markusturm, das Wahrzeichen Venedigs, bis er 1902 sogar vollständig einstürzte. Die Venezianer waren darüber so geschockt, dass man beschloss, ihn einfach wieder aufzubauen und den Vorfall so schnell wie möglich zu vergessen. Das Sterben Venedigs und der Verfall der Gebäude wurden mit jedem Jahr deutlicher.
Schließlich kamen die Touristen, denn nichts zieht die Menschen mehr an, als eine dem Untergang geweihte Stadt. Millionen von ihnen trampelten Jahr für Jahr über die geschichtsträchtigen Pflastersteine, schmissen ihren Müll in die Gassen und betrachteten die Stadt – so hatte David Clementoni voll Bitterkeit geschrieben – als eine Art historischen Vergnügungspark. Immer mehr Einheimische zogen weg und aus Venedig wurde eine Totenstadt.
»Du hast recht«, meinte Gianna schließlich. »Wenn man das alles so hört, kommt man ins Grübeln. In den letzten vier Jahrhunderten scheint es mit Venedig stetig bergab gegangen zu sein.«
»Die Frage ist, ob das alles nur zufällig passiert ist oder ob es tatsächlich mit einem Fluch zu tun hat, wie die Clementonis behaupten.«
Francesca lief nachdenklich eine Gasse entlang, die nebelverhangen vor ihnen lag. Es gab noch etwas, das sie beschäftigte, doch sie wollte Gianna nicht damit beunruhigen. Als sie in Rafael Clementonis Erzählung von der Statue mit dem Umhang und der Pestmaske gelesen hatte, dachtesie sofort an die Statue, auf die sie bei Baldinis erster Essenslieferung gestoßen war. Genau wie Rafael hatte auch Francesca für einen Moment geglaubt, dass sich die Statue bewegt hatte. Wie viele dieser steinernen Pestmaskenfiguren mochte es in Venedig geben? Dass Francesca vier Jahrhunderte später an einer völlig anderen Stelle Venedigs auf exakt dieselbe Statue traf, war ein wirklich seltsamer Zufall.
Sie bemerkte, dass Gianna Probleme hatte, mit ihr Schritt zu halten und verlangsamte ihr Tempo. Es war ein anstrengender Tag gewesen und sie wusste, dass Gianna wegen ihres Hüftschadens Schmerzen bekam, wenn sie zu viel laufen musste.
Zudem waren die abgetretenen Pflastersteine durch den Nebel von einem schmierig-feuchten Film bedeckt, sodass es ohnehin sicherer war, wenn sie nicht blindlings durch die Gassen hetzten.
»Wenn jemand an die Existenz von Flüchen glauben sollte, dann wir«, stellte Gianna fest. »Da die Medicis von einem Fluch verfolgt werden, kann genauso gut auf Venedig ein Fluch liegen.«
»Unser Großvater schien auch dieser Meinung zu sein. Warum hätte er uns wohl sonst diese
Weitere Kostenlose Bücher