Die Schattenträumerin
haben! Sicherlich konnte es ihnen neue Informationen liefern. Nervös schielte sie zu dem Mann, der inzwischen das Vorwort studierte.
Bitte, leg es wieder zurück!, flehte sie in Gedanken.
Der Mann klappte mit einem sarkastischen Schnauben das Buch zu. Francesca hielt gespannt den Atem an. Als erin die Knie ging, um das Buch wieder zurückzustellen, hätte sie am liebsten einen Freudenschrei ausgestoßen. Stattdessen fragte sie nur: »Entschuldigen Sie, darf ich es vielleicht haben?«
Der Mann drehte sich erstaunt zu ihr um. »Natürlich.« Er drückte ihr das Buch in die Hand. »Aber ich muss dich warnen – Professor Knüttelsiel ist nicht unbedingt ein seriöser Wissenschaftler. Viele bezeichnen ihn als Spinner. Diese drei Bücher, über die er sich hier auslässt, lassen mich vermuten, dass er diesen Ruf zu Recht hat. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat nämlich keines der Bücher je existiert, alles nur Märchen und Mythen.«
Francesca zuckte mit den Schultern. »Ich mag Märchen und Mythen!«, meinte sie lächelnd.
Sie drückte das Buch wie einen Schatz an sich. So langsam begann sie, sich von Giannas Optimismus anstecken zu lassen. Heute schien tatsächlich ihr Glückstag zu sein! Zuerst hatten sie eine Lösung gefunden, der Macht des Necronomicons Grenzen zu setzen und nun hatte Francesca durch Zufall dieses Buch entdeckt. Sie konnte es kaum abwarten, Gianna davon zu erzählen! Ihre Cousine saß mittlerweile an einem der Holztische und hielt ein dünnes Büchlein mit einem schlichten Einband in den Händen.
»Da bist du ja endlich!«, nörgelte Gianna. »Uns bleibt nicht viel Zeit, bis die Bibliothek schließt! Leider dürfen wir uns nämlich ›Eine Chronik des Unglücks‹ nicht ausleihen. Es wurden nur eine Handvoll Exemplare gedruckt, da ein Nachfahre dieses Rafael Clementoni es auf eigene Kosten herstellen ließ. Wir haben Glück, dass die Bibliothek esüberhaupt besitzt.« Sie schob Francesca das Buch hin. »Wir dürfen es uns nur hier vor Ort ansehen. Du liest schneller als ich – sicher bist du bald damit fertig.«
Francesca stöhnte und sah auf die Uhr. Es blieben nicht einmal mehr zwei Stunden, bis die Bibliothek geschlossen wurde. Aber wenn sie sich beeilte, konnte die Zeit ausreichen.
»Gut, aber für dich habe ich auch Arbeit. Du kannst schon mal anfangen, in dieser wissenschaftlichen Abhandlung zu lesen. Darin geht es um das Necronomicon.«
Gianna verzog das Gesicht. »Eine wissenschaftliche Abhandlung?«, sagte sie mit einer Begeisterung, als hätte Francesca von ihr verlangt, sich einen besonders ekelerregenden Fußpilz anzusehen.
»Na komm, so schlimm wird es schon nicht sein!«, meinte Francesca aufmunternd und schlug die »Chronik des Unglücks« auf. Das Buch begann mit einem Vorwort:
Venedig, 12.07.1977
Mein Vorfahre Rafael Clementoni hat mit dieser Niederschrift im Jahre 1618 begonnen, und bis zum heutigen Tag haben wir, seine Nachfahren, sein Erbe fortgeführt. An jenem schicksalhaften Morgen des 18.05.1618 begegnete mein Vorfahre dem leibhaftigen Teufel. Ein Teufel, der sich als Fluch über die Stadt legen und sie nicht mehr aus seinen Klauen entlassen sollte. Weil Rafael nicht wusste, wie er den Teufel seiner Macht berauben konnte, sah er seine Aufgabe darin, all die Unglücke zu protokollieren, die Venedig durch den Fluch widerfuhren – und wir, seine Nachfahren, haben es ihm gleichgetan.
Aus den unglücklichen Fügungen des Schicksals heraus werde ich der letzte Chronist dieser langen Reihe sein. Da ich keine Nachkommen habe, wird mit mir auch die Familie Clementoni sterben. So habe ich all unsere Niederschriften zu diesem Buch zusammenfassen lassen, in der Hoffnung, dass jemand kommen möge, der unserer Familie Glauben schenkt und La Serenissima, unser geliebtes Venedig, von dem Fluch befreien und vor dem sicheren Untergang bewahren wird.
David Clementoni
Francesca zog eine Augenbraue hoch. Venedig musste vor dem sicheren Untergang bewahrt werden? Das klang ja sehr mysteriös! Sie blätterte weiter.
Venedig, 18.05.1618
Ich riss erschrocken die Augen auf. Eine Hand presste sich so fest auf meinen Mund, dass ich kaum noch atmen konnte. Ich blinzelte, um irgendetwas erkennen zu können, doch alles, was mich umgab, war Finsternis. Wo war ich? Warum lag ich nicht zu Hause in meinem Bett? Ich versuchte, die Hand wegzuschlagen und strampelte wie wild, um mich freizubekommen.
»Sei ruhig, du Idiot! Da kommt jemand«, flüsterte eine Stimme nah an meinem Ohr. Der warme
Weitere Kostenlose Bücher