Die Schattenwelt
das Rohrnahezu unbeschädigt überstanden, seine Kleidung war jedoch komplett durchnässt. Aber zu seiner Erleichterung spürte er, dass das Messer sich immer noch in seiner Tasche befand. Allerdings ließ sich sein Handy nicht mehr einschalten und, was noch viel schlimmer war, die Tinte auf dem Zettel mit Carnegies Adresse war verwischt. Es war nur noch ein unleserliches Geschmier. Jonathan schlug sich mit der flachen Hand gegen die nasse Stirn. Wie sollte er diesen Typen jetzt bloß finden?
Er umrundete das Becken und kletterte die Leiter zu dem Gitter hinauf. Er hoffte, es anheben zu können, um wieder an die Oberfläche zu gelangen, aber es war verschlossen. Es gab keinen Weg zurück. Jonathan wollte gerade wieder hinabrutschen, als er eine vertraute, wohlklingende, weibliche Stimme auf der Straße über ihm vernahm.
»Also, wo steckt der Junge, Humble?«
Eine kurze Pause entstand.
»Er hat es durch das Rohr geschafft?«, fragte Marianne ungläubig.
Erneut Stille.
»Warum hast du ihn nicht aufgehalten?«
Noch mehr Stille.
»Möchtest du, dass Skeet den Kleinen jagt?«
»Lebt er noch?«
»Kann ihn noch riechen. Ist nicht tot. Ist sehr nahe.«
»Stimmt das?« Marianne hob ihre Stimme. »Kannst du uns hören, Jonathan? Ich wette, du kannst.«
Unter dem Gitter hielt Jonathan die Luft an.
»Bist ein mutiger kleiner Bursche, nicht wahr? Aber es ist noch nicht vorbei. Wenn du nach Darkside gehst, folgen wir dir. Du bist dort weit weg von zu Hause, mein Kleiner, und wir kennen jede Straßenecke und jeden Hinterhof. Du entkommst uns nicht …«
Jonathan war erleichtert, als er das Heulen herannahender Sirenen hörte. Marianne wandte sich an ihre Begleiter.
»Ich glaube, unsere kleine Show hat Aufmerksamkeit erregt. Lasst uns verschwinden. Oh, und Humble? Du überlegst dir am besten schon mal, wie du die Sache Grimshaw schonend beibringst.«
Endlich war er ihnen entkommen. Nun musste er nur noch einen Weg hier raus finden. Er wischte sich mit seinem Ärmel die Nase ab und starrte in die Dunkelheit. In der Ecke des Raums führten ein paar verfallene Steinstufen hinab zu einem Gewölbegang, der von runden Säulen gestützt wurde. Diese Stille wurde nur vom Plätschern des Wassers, dem Quieken und Scharren der Ratten und – irgendwo in der Ferne – dem gleichmäßigen Rattern einer U-Bahn unterbrochen.
Er schien keine andere Wahl zu haben. Jonathan lief die Stufen hinunter und musste würgen, als ihm der faulige Verwesungsgeruch in Wellen entgegenschlug: der Gestank von Abwasser und toten Ratten. Der Boden war uneben und von einem dünnen Abwasserfilm überzogen. Das platschende Geräusch seiner Schritte hallte von den Rundungen der Wände wider. Jonathan ballte triumphierend die Faust, als ereine stählerne Wendeltreppe am Ende des Gewölbes entdeckte. Sie wurde links und rechts von Gaslampen flankiert. Von der Sehnsucht nach frischer Luft getrieben, hastete er die Stufen hinauf. Und dann betrat er Darkside.
8
»Nun denn, Ricky Thomas …«
Inspektor Ian Shaw platzte leicht außer Atem in den Besprechungsraum und bekleckerte sich dabei mit etwas Kaffee aus einem Plastikbecher. Eine Handvoll Leute – eine Mischung aus Polizisten in Uniform und Beamten in Zivil – hockte auf Stühlen oder saß auf Tischen, die in einem zwanglosen Halbkreis aufgestellt waren. Das Ganze wirkte eher wie das Schulzimmer einer sechsten Klasse und nicht wie das Herzstück einer groß angelegten Polizeiaktion. An der Stirnseite des Raums stand der Chefinspektor neben einer Stellwand, die mit diversen Fotos übersät war. Er war eindeutig mitten in einer Ansprache und verstummte demonstrativ, als Shaw den Raum betrat. Shaw fluchte still vor sich hin. Hätte er sich doch bloß nicht diesen verdammten Kaffee geholt! Der Chefinspektor neigte leider nicht dazu, derartige Vorfälle zu vergessen.
»Tschuldigung, Chef«, murmelte er.
Der Chefinspektor warf ihm einen verärgerten Blick zu.
Da er spürte, dass alle ihn anstarrten, schlurfte Shaw mit rotem Kopf durch die Reihen der Beamten inden hinteren Teil des Raums. Selbst der Geruch von abgestandenem Zigarettenrauch und Schweiß konnte die Spannung, die in der Luft lag, nicht übertünchen. Jeder Polizist wusste, dass dieser Fall einen Karriereschub bedeuten konnte. Ein Zufallstreffer, eine Entdeckung, eine Verhaftung: Das wäre alles, was man brauchte. Das Interesse der Medien an diesen Fall war mehr als ausreichend, um denen, die ihre Sache gut machten, eine Beförderung zu
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