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Die Schattenwelt

Titel: Die Schattenwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Becker
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Notizblocks.
    »Ah, ja. Ich hätte gerne Inspektor Shaw, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
    Der Chefinspektor starrte ihn mit offenem Mund an.
    »Nun, sicherlich … Ich meine, wie Sie wollen, wenn … Sie wissen schon … Also, wenn Sie sicher sind, dass Sie ihn wollen.«
    »Ganz sicher.«
    Inspektor Shaw schluckte. Wo auch immer die Spezialeinheit unterwegs war, die Gefahr folgte ihr auf den Fuß. Er würde also mitten im Geschehen sein, nun gut.

9
    Es war nicht so, wie er erwartet hatte. Es war mit nichts vergleichbar, das er sich jemals vorgestellt hatte. Jonathan stand reglos da, atmete kaum und sog alles in sich auf. Seine Sinne waren auf das Äußerste geschärft, in dem Versuch, die Szenerie zu begreifen.
    Er befand sich auf einer schmalen, gepflasterten Straße, eingehüllt in ein brodelndes Stimmengewirr: verstümmelte Rufe, heisere Schreie, kreischender Protest und knurrende Drohungen. Vor ihm zog eine lange Reihe Pferdefuhrwerke vorbei. Das Poltern der Räder und Klappern der Hufe auf dem Kopfsteinpflaster hallte in Jonathans Ohren wider. Zu beiden Seiten der Straße erhoben sich Furcht einflößende rußgeschwärzte Häuser, die sich aneinander anzulehnen schienen. Über ihren weit gewölbten Dächern ragten gewaltige Schornsteine in den Himmel und spuckten dichte Rauchwolken aus, die das Firmament in eine immerwährende Finsternis tauchten. Ein milchiger Vollmond schimmerte schwach durch den beißenden Dunst.
    Jonathan hustete heftig – er wusste nicht, ob es an dem beißenden Rauch lag, der in seine Lungen drang,oder an dem fauligen Gestank, der die Straße entlangströmte. Der Dunst um ihn herum schien niemanden zu stören. Trotz der späten Stunde drängten sich unzählige Menschen auf den Bürgersteigen. Sie waren alle altmodisch gekleidet: Die Männer trugen Anzüge, lange Übermäntel und Zylinder, während sich die Frauen in Kleidern, die bis zu den Knöcheln reichten, und Umhängetücher gehüllt hatten. Jonathan musste sie unwillkürlich anstarren. Es war ihm, als wäre er in die Vergangenheit gereist.
    Während die Passanten im schummrigen Licht der Straßenlaternen an ihm vorbeizogen, bemerkte er, dass nicht nur ihre Kleidung sonderbar war. Ab und an erhaschte er einen flüchtigen Blick auf etwas, das ihn beunruhigte: Ein Mann, dessen Mund mit rotem Lippenstift verschmiert war, grinste seinen Begleiter an und entblößte dabei seine scharfen, vorstehenden Schneidezähne; eine Frau schlich mit den ausdrucklosen Augen eines Schlafwandlers vorbei, die Fingernägel tief in ihre bleichen Arme gekrallt; und aus der Ferne blitze unter den Falten eines Kleides oder den Schößen einer Jacke eine Klinge hervor. Trotz des Tumults, dem Schieben und Drängeln der Menge, gab es einige, deren Weg stets frei war, um die sich wie von Zauberhand ein Freiraum bildete. Jonathan ahnte, dass er sich in ernster Gefahr befand.
    Die Versuchung war groß, wieder zu dem Übergang zurückzukehren und sich dort zu verstecken, aber er wusste, dass er Carnegie finden musste. Es blieb ihm keine andere Wahl. Er atmete mehrmalstief durch und trat auf die Straße. Die Menschenmenge zog ihn unverzüglich mit sich. Er versuchte, auf den Beinen zu bleiben, aber mit jedem Schritt stieß ihn ein Ellenbogen oder ein Fuß, und es war ihm nicht möglich, das Gleichgewicht zu halten. Die Schaufenster der Geschäfte flogen in einer Geschwindigkeit an ihm vorbei, die es ihm unmöglich machte, zu erkennen, was dort verkauft wurde. Die Straßenhändler versuchten vergeblich, mit ihren Rufen den Lärm zu übertönen, und klammerten sich an die Straßenlaternen, um sich vor dem Gedränge zu schützen.
    Jonathan sah sich um. Er musste herausfinden, wo er sich befand. Zwei Straßenköter kämpften zu seinen Füßen und rissen ihn zu Boden. Er versuchte, sich schnell wieder aufzurappeln, doch die Menschenmenge stieß ihn hin und her und drückte ihn erneut zu Boden. Panik überkam ihn, doch plötzlich griff eine Hand nach ihm und zog ihn hoch. Ein Mann zerrte ihn aus dem bedrohlichen Dickicht der Menschenmassen fort in eine ruhige Nebenstraße. Er trug einen makellos gebügelten dreiteiligen Anzug, und sein Haar wirkte, als sei es mit Gel geglättet.
    »Alles in Ordnung, Kumpel? Das war ziemlich knapp.«
    »Ja, danke«, keuchte Jonathan dankbar. »Ich konnte nicht aufstehen.«
    »Du wirkst etwas verloren, mein Junge. Kann ich dir irgendwie helfen?«
    »Ich suche einen Mann namens Carnegie. Wissen Sie, wo er wohnt?«
    Die Augen des Mannes

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