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Die Schattenwelt

Titel: Die Schattenwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Becker
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mit ihren Beifahrern oder lauschten ihren Radios. Niemand hupte oder stieg aus seinem Wagen aus. Es war, als würde nichts Ungewöhnliches geschehen. Sie waren von Menschen umgeben und trotzdem waren sie völlig alleingelassen.
    In diesem Moment erwachte Jonathan aus seiner Teilnahmslosigkeit. Der Spalt war nun beinahe so breit,dass der Riese seine Hand hindurchstrecken konnte. Trotz der Anstrengung, die sich auf seinem Gesicht spiegelte, grinste er immer noch triumphierend.
    »Er will mich! Wenn ich weglaufe, wird er mir folgen!«
    Der Mann riss die Tür auf, als würde er lediglich eine Dose öffnen. Jonathan löste seinen Gurt und zwängte sich durch die Lücke zwischen den Vordersitzen auf die Rückbank. Er stieß die Hintertür auf der Fahrerseite auf und schlüpfte hinaus. Der Riese warf die Beifahrertür zu Boden und sah Jonathan gerade noch auf der anderen Seite des Autos davon sprinten.
    »Jonathan!«, schrie Miss Elwood aus ihrem Fenster. »Lauf!«
    Das musste sie ihm nicht zweimal sagen. Jonathan rannte die Hauptverkehrsstraße im Schutz der zahllosen aufgestauten Autos entlang. Er blickte über die Schulter zurück, um sich zu vergewissern, dass Miss Elwood außer Gefahr war, und bemerkte erleichtert, dass der Riese dem Wagen keine weitere Beachtung schenkte und stattdessen gemächlich seine Verfolgung aufnahm. Jonathan zwängte sich zwischen zwei Autos hindurch, bog nach links ab und rannte eine schmale Nebenstraße hinunter, die zum Ufer der Themse führte. Da er seine Aufmerksamkeit unbeirrbar auf Humble richtete, übersah Jonathan den schwarzen Lieferwagen, der am Straßenrand parkte. Er bemerkte die Tür nicht, die sich öffnete, und ebenso wenig den kleinen glatzköpfigen Mann, der aus dem Wagensprang. Auch die Frau mit dem langen schwarzen Umhang und dem leuchtend gelben Haar sah er nicht. Er nahm nichts von all dem wahr, bis es zu spät war.
    Jonathan rannte Marianne direkt in die Arme. Sofort umhüllte ihn wieder der vertraute berauschende Duft.
    »Hallo, Jonathan. Schön, dich wiederzusehen. Wir haben dich letztes Mal verpasst.«
    Er wand sich in ihren Armen und versuchte, die Luft anzuhalten. Neben ihm kicherte Skeet und boxte ihm fest in die Rippen.
    »Diesmal nicht, ha, diesmal entkommst du uns nicht, Kleiner.«
    Der Riese holte sie ein. Wenn er ihn in die Finger bekäme, wäre Jonathan verloren. Während er sich wand und um sich trat, tastete er mit seinen Händen verzweifelt nach irgendetwas, das ihm helfen konnte. Mit seiner linken Hand umschloss er eine von Mariannes Haarsträhnen. Er riss, so fest er konnte, daran. Sie schrie vor Schmerz auf. Skeet warf den Kopf zurück und kreischte ebenfalls. Jonathan nutzte die Situation aus, trat ihm kräftig gegen die Schienbeine und befreite sich von den beiden. Er wirbelte herum und rannte zum Themse-Ufer hinunter.
    »Humble!«, schrie Marianne und hielt sich den Kopf. »Fang ihn ein!«
    Jonathan hastete den Uferpfad der Themse entlang. Das Wetter wurde immer schlechter, der beißende Wind und der Regen trieben die Menschen von den Straßen in ihre Häuser. Obwohl gerade Ebbe war,peitschten unter den Brücken die Wellen gegen die Pfeiler, und die kugelförmigen Straßenlaternen tauchten den Pfad in ein gespenstisches Licht. Jonathan hörte ein Geräusch hinter sich und blickte über seine Schulter zurück. Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Der riesige Humble hatte seine gemächliche Gangart aufgegeben und sprintete hinter ihm her. Seine langen, dünnen Spinnenbeine krabbelten über den Boden und trieben ihn mit geradezu unnatürlich hoher Geschwindigkeit voran. Jonathan keuchte und verdoppelte seine Anstrengung. Während er rannte, tauchte vor ihm das metallene Tragwerk der Blackfriars-Brücke auf.
    Am Fuß der Brücke hielt er inne. Hier war vor über einem Jahrhundert der Entdecker Raphael Stevenson mit Molly vorbeigegangen. Eine Metalltreppe führte vom Ufer hinauf auf die Blackfriars-Brücke, die die dunkle Weite der Themse überspannte. Der Pfad verlief unter der Brücke zwischen den Stahlträgern hindurch. Zu seiner Linken führte eine Metallleiter von der Ufermauer direkt zum Flussbett hinunter. Jonathan blickte gehetzt nach unten. Der Wasserstand war niedrig genug, dass man den schlammigen und steinigen Flussgrund sehen konnte.
    Jonathan zögerte, während ihm der kalte Wind ins Gesicht blies. Am oberen Ende der Treppe lag London, die Stadt, die er kannte, hell und voller Menschen. Wenn in dem Buch die Wahrheit stand,

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