Die Schattenwelt
Stühle ausmachen, außerdem ein niedriges Sofa, das auf einem abgewetzten Teppich stand, und ein wackliges Bücherregal, das an der Wand lehnte. Das Feuer im Kachelofen war erloschen und es war klirrend kalt. Hinter einem langen Holzschreibtisch saß ein Mann zusammengesunken auf einem Stuhl. Er drehte Jonathan den Rücken zu und starrte hinaus auf den Mond. Selbst bei diesem schummrigen Licht konnte man erkennen, dass es ein breitschultriger, bulliger Mann war. Als er schließlich sprach, klang seine Stimme hohl und kraftlos.
»Was willst du hier?«
»Entschuldigung … Ich habe geklopft.«
Beim Klang von Jonathans Stimme drehte Carnegie sich um. Seine wuchtige Silhouette schien den gesamten Raum auszufüllen.
»Ich habe nicht ›herein‹ gerufen. Grundlegende Manieren, Junge.«
»Wollen Sie, dass ich draußen warte?«
»Ich will, dass du verschwindest.«
Jonathan konnte es nicht glauben. Dies sollte die Person sein, zu der ihn sein Vater geschickt hatte? Der Mann, auf den er sich verlassen, der ihm das Leben retten sollte? Und nun forderte er ihn auf, zu verschwinden?
»Aber ich brauche Ihre Hilfe!«
»Nicht heute Nacht, Junge. Es wird nur noch schlimmer, wenn du hierbleibst.«
»Ich kann nirgendwo sonst hin!«
Carnegie sprang von seinem Stuhl auf und beugte sich über den Schreibtisch. Im Mondlicht konnte Jonathan sehen, dass seine Augen trüb und blutunterlaufen waren.
»Verstehst du nicht?«, fauchte er und deutete auf das Fenster. »Hast du den Mond nicht gesehen? Willst du, dass ich dir wehtue? Verschwinde jetzt!«
»Ich brauche Ihre Hilfe!«, erwiderte Jonathan verzweifelt. »Mein Vater hat mich hergeschickt … Er sagt, er kennt Sie!«
Carnegie hatte sich in den Stuhl zurückfallen lassen und vergrub wimmernd sein Gesicht zwischen seinenHänden. Er schien krank zu sein. Dann begannen seine Schultern zu zittern, und Jonathan fragte sich, ob er weinte. Er schob sich langsam in seine Richtung und streckte ihm die Arme entgegen.
»Mr Carnegie? Ist alles in Ordnung?«
Er legte seine Hand auf eine seiner breiten Schultern. Carnegie entfuhr ein heiseres Kichern.
»Es geht mir besser, Junge«, murmelte er mit belegter Stimme. »Viel besser!«
Carnegies Kopf schnellte plötzlich hoch und Jonathan wich entsetzt zurück. Sein Gesicht hatte eine grauenvolle Verwandlung durchgemacht. Die Haut war von grauem Fell bedeckt und seine Zähne waren plötzlich lang und spitz. Dort, wo zuvor seine müden, menschlichen Augen gewesen waren, funkelten nun die grausamen, hungrigen Augen eines wilden Tiers.
Jonathan wich weiter zurück in Richtung Tür. Carnegie erhob sich und folgte ihm mit kraftvollen Bewegungen.
»Ich habe dir gesagt, dass du verschwinden sollst.«
»Ich gehe … Ich gehe!«, schrie Jonathan.
Carnegie grinste und gab dabei den Blick auf seine Fangzähne frei.
»Zu spät …«
10
Carnegie stürzte sich auf Jonathan. Sein Schlund war weit geöffnet und die Reißzähne blitzen hell auf. Jonathan konnte gerade noch zur Seite springen, bevor eine riesige Hand – es war eher eine Pranke als eine Hand – die Luft an der Stelle durchschnitt, an der er gerade eben noch gestanden hatte. Die Bestie fletschte die Zähne und näherte sich ihm. Ihre Bewegungen waren kraftvoll, wild und anmutig zugleich. Sie schien ständig größer zu werden, während sie auf Jonathan zukam. Die Schultern wurden breiter und die Muskeln zeichneten sich immer deutlicher unter dem Hemd ab.
Jonathan musste etwas unternehmen, bevor es zu spät war. Hastig schob er die Hand in seine Tasche und zog das Messer hervor. Als das Biest sich näherte, stach er zu. Jonathan spürte, wie die Klinge das dicke Fell streifte, und rannte um den Schreibtisch herum. Carnegie heulte auf und wischte sich mit seiner behaarten Pranke einen Blutfleck aus dem Gesicht. Ein heiseres Lachen ertönte aus seiner Kehle.
»Du brauchst mehr als diesen Zahnstocher, um mich aufzuhalten«, knurrte er.
»Warum greifen Sie mich an? Ich kam hierher, weil ich Ihre Hilfe brauche!«
»Richtiger Ort, falsche Zeit, mein Junge.«
Jonathans Blick durchsuchte verzweifelt den Raum nach einer größeren Waffe. Neben den Kamin hing ein Schürhaken an der Wand, aber um dorthin zu gelangen, müsste er an der Bestie vorbei – und das würde er unmöglich schaffen. Er saß in der Falle. Warum um Himmels willen hatte sein Vater ihn nur hierhergeschickt?
Jonathan hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Mit einem Satz sprang Carnegie über den Schreibtisch
Weitere Kostenlose Bücher