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Die Schattenwelt

Titel: Die Schattenwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Becker
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auf ihn zu. Der Junge duckte sich weg und versuchte zu entkommen, aber Carnegie landete mühelos auf allen vieren, richtete sich auf und jagte ihm sofort wieder nach. Jonathan erhaschte einen kurzen, quälenden Blick auf die Tür, bevor das Biest mit der Pranke ausholte und ihn mit aller Kraft in den Magen schlug. Jonathan stürzte zu Boden und rang nach Luft. Er spürte einen stechenden Schmerz in der Seite, und als er die Wunde berührte, färbte das Blut seine Handfläche rot.
    Carnegie heulte auf – aber jetzt vor Freude. Er umrundete den Schreibtisch und näherte sich Jonathan langsam, wobei er sich an der Hilflosigkeit seiner Beute weidete. Jonathan lag auf dem Rücken und schob sich mit letzter Kraft über den Boden, seine Füße rutschten über den zerschlissenen Teppich und sein ganzer Körper bebte vor Angst.
    »Kein Grund zur Eile«, grollte die Bestie. Ihr graues Fell glänzte im fahlen Mondlicht. »Es ist noch früh.«
    »Verschonen Sie mich! Ich bin Alain Starlings Sohn!«
    Carnegie zuckte mit den Schultern.
    »Und?«
    Jonathan schluchzte. Es gab keinen Ausweg mehr. Sein Leben würde wohl hier enden, in einem kleinen, dunklen Raum mitten in der Hölle.
    Die Bestie beugte sich über ihn. Sie verdeckte den Mond, verdeckte das Licht, verdeckte alles. Carnegie brüllte und stürzte sich auf Jonathan …

    Licht. Es war das Licht, das er zuerst wahrnahm. Nicht das strahlend weiße Licht des himmlischen Jenseits, sondern das fahle gelbe Licht eines Sonnenstrahls, der durch das Fenster kam. Jonathan öffnete die Augen und blinzelte. Die Decke des Raums war von Rissen durchzogen und mit schwarzen Schimmelflecken übersät. Er drehte den Kopf, um seine Umgebung besser sehen zu können, aber mit der Bewegung durchfuhr ihn ein Schmerz. Jonathan betastete die zerrissenen Reste seines Sweatshirts, um festzustellen, ob seine Wunde noch blutete, aber während er ohnmächtig gewesen war, hatte sie jemand verbunden.
    »Du bist also wach.«
    Carnegie saß wieder auf seinem Stuhl. Er sah erschöpft und müde, aber menschlich aus. Das Fell war aus seinem Gesicht verschwunden, abgesehen von seinem unrasierten Kinn, und seine Zähne waren wiederauf ihre normale Größe zurückgeschrumpft. Er trug einen langen schwarzen Gehrock über einer schmuddeligen Weste, die mit dunklen Farbklecksen übersät war. Während er sprach, klopfte er mit einem Federhalter auf den Schreibtisch und vermied es, Jonathan in die Augen zu sehen.
    »Scheint so. Was ist passiert?«
    »Wir haben beide Glück gehabt.«
    Jonathan richtete sich auf und wimmerte vor Schmerz.
    »Ich fühle mich aber nicht so.«
    »Glaub mir, du bist der größte Glückspilz von Darkside. Und hier gibt es viele Leute, die wissen, wie man das Glück findet. Vor allem, wenn ich mit ihnen Karten spiele.«
    »Hä?«
    Carnegie schnaubte.
    »Vergiss es. Wie geht es deiner Wunde?«
    »Sie tut höllisch weh.«
    »Ja. Das wird auch noch eine Weile so bleiben. Du wirst es überleben.«
    Ein Glas Wasser stand neben dem Sofa. Jonathan trank einen Schluck, während Carnegie weiterhin auf den Schreibtisch klopfte. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte Jonathan geglaubt, dass der Detektiv nervös war. Carnegie schüttelte mit reumütiger Miene den Kopf.
    »Du bist also der Sohn von Alain Starling.«
    Jonathan nickte.
    »Das habe ich versucht, Ihnen zu sagen.«
    »Verzeih mir. Ich kann meist nicht klar denken, wenn ich … nun, du weißt schon, in diesem Zustand bin. Und es ist ziemlich lange her, dass ich deinen Vater das letzte Mal gesehen habe.«
    »Sie … Sie sind also …«
    Jonathan war sich nicht sicher, ob er den Satz über die Lippen bringen würde.
    »Sind Sie ein … Werwolf?«
    Carnegie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.
    »Das wird ein langer Tag. Ich weiß es jetzt schon. Lass mich eines klarstellen, Junge. Ich bevorzuge ›Wermensch‹. Oder hast du mich letzte Nacht auf allen vieren rumlaufen sehen?«
    »Ich glaube nicht.«
    »Ich bin kein Tier, verdammt noch mal.«
    »Aber jedes Mal, wenn Vollmond ist, dann … verwandeln Sie sich?«
    »Oder wenn ich sehr wütend werde. Und ich warne dich, Junge, deine Fragen bringen mich bald so weit.«
    Er fluchte leise vor sich hin. Jonathan nippte nochmals an seinem Wasser und blickte aus dem Fenster.
    Die Fitzwilliam-Straße war belebter als am Abend zuvor. Doch sie wirkte keineswegs einladender. Stinkende Abwasserrinnsale liefen über den Bürgersteig. Die Bewohner von Darkside stapften hindurch und bespritzen dabei

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