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Die Schattenwelt

Titel: Die Schattenwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Becker
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ihre Kleidung. Junge Burschen mit Schiebermützen und kurzen Hosen rannten über die Straße und wichen im letzten Moment den vorbeidonnernden Rädern der Pferdefuhrwerke aus. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand ein Mann miteiner speckigen weißen Schürze vor der Tür einer Metzgerei. Ein Schlachterbeil ruhte bedrohlich in seinen verschränkten Armen. Der Himmel war immer noch verhangen mit den schmutziggrauen Wolken, die aus den Schornsteinen der Fabriken krochen, und die dunklen Rauchschwaden eines entfernten Feuers wehte aus einer Nebenstraße herüber.
    »Warum bin ich noch am Leben?«
    »Hmm?«
    »Sie haben sich nicht an den Namen meines Vaters erinnert. Aber Sie haben mich nicht umgebracht. Wieso?«
    Carnegie blickte zum ersten Mal auf.
    »Als du ohnmächtig wurdest, ist dies hier aus deiner Tasche gekullert.«
    Er hielt einen kleinen Gegenstand hoch. Es war die gebrauchte Kugel, die Miss Elwood ihm gegeben hatte! In seiner Angst und Verwirrung hatte er sie vollkommen vergessen.
    » Das hat Sie aufgehalten?«
    »Mag sein, dass ich einmal einen Namen vergesse, aber ich werde dieses Ding nie vergessen. Diese Kugel hätte meinem Leben ein Ende gesetzt, wenn dein Vater sie nicht aus mir rausgeholt hätte.«
    »Aber ich dachte, Werwö … Wermenschen könnten nur von Silberkugeln verletzt werden.«
    »Bist du jemals angeschossen worden, Junge?«
    »Nein.«
    »Tut ziemlich weh. Hier!« Er warf ihm die Kugel zu. »Du solltest sie lieber behalten. Nur für den Notfall.«
    »Dann bin ich jetzt also in Sicherheit?«
    »Was mich betrifft, fürs Erste: Ja.« Carnegie grinste.

    Im Kühlraum der Metzgerei beobachtete Jonathan mit Grausen, wie Carnegie seine Zähne in eine rohe Lammkeule schlug und gierig die Fleischfetzen vom Knochen riss. Er schien nicht zu bemerken, dass er seinen Gehrock mit Lammblut beschmierte. Als er Jonathans Gesichtsausdruck bemerkte, hielt Carnegie ihm die Keule entgegen.
    »Bist du sicher, dass du nichts davon willst?«
    »Nein, danke.«
    »Und du hast behauptet, du hättest Hunger!«
    »Ja. Hatte ich auch. Aber jetzt nicht mehr.«
    Carnegie verschlang ein großes Stück Fleisch.
    »Ich verhungere. Letzte Nacht war ich kurz davor, etwas zu essen, aber – nun, du weißt ja …«
    Jonathan stampfte mit den Füßen und versuchte, die Kälte abzuschütteln. Er hatte sich einen Pullover und eine Hose von dem Wermenschen geliehen, die Ärmel hochgerollt und den Gürtel eng geschnürt, damit ihm die Sachen passten, aber ihm war trotzdem kalt. Die Fleischkühlung war ein quadratischer, weiß gekachelter Raum. Riesige Fleischbrocken hingen an Haken von der Decke und schwangen hin und her. Carnegie hatte sich nicht umgezogen – er hatte sich lediglich noch einen Zylinder aufgesetzt und tief ins Gesicht gezogen – aber die Kälte schien ihm nichtsauszumachen. Er widmete sich ausschließlich dem Fleisch vor seiner Nase. Jonathan hatte schon befürchtet, Carnegie würde sich wieder in das schreckliche Biest der vergangenen Nacht verwandeln. Aber nun stellte er fest, dass der Anblick eines gewöhnlich aussehenden Mannes, der rohes Fleisch verschlang, sogar noch erschreckender war. Die Tür des Kühlraums öffnete sich und der grimmig dreinblickende Metzger schob seinen Kopf hindurch.
    »Wie schmeckt das Lamm?«
    »Gut, wie immer, Col. Der Junge scheint trotzdem nichts davon zu wollen.«
    Der Metzger zuckte mit den Achseln.
    »Manche Menschen bevorzugen ihr Fleisch gekocht, Carnegie. Was soll man machen?«
    »Sie auffressen?«
    Der Metzger gab ein lautes Kichern von sich.
    »Bist du an einem neuen Fall dran? Willst du eine Flasche von deiner Spezialmischung?«
    Carnegie warf Jonathan einen listigen Blick zu.
    »Ich glaube, der Junge könnte Ärger bringen. Gib mir lieber eine Flasche, nur zur Sicherheit.«
    Der Metzger bahnte sich seinen Weg durch die Fleischbrocken und stapfte in die hinterste Ecke des Raums. Er kehrte mit einer vereisten, braunen Glasflasche zurück und reichte sie dem Wermenschen. Carnegie ließ sie in seine Seitentasche gleiten.
    »Prost, Col.«
    »Ähm, Entschuldigung, aber … was ist das?«, fragte Jonathan.
    »Das ist Carnegies Spezialmischung. Wenn er an einem Fall dran ist, geht er nie ohne sie aus dem Haus.«
    »Hat mir schon ein paar Mal aus der Patsche geholfen, das kann ich dir sagen.«
    Jonathan runzelte die Stirn.
    »Warum bewahren Sie das Zeug im Kühlhaus auf?«
    »Gefährliches Zeug. Sollte man lieber kühlen. Ein Funke und der Schuppen fliegt in die

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