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Die Scherenfrau

Die Scherenfrau

Titel: Die Scherenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge Franco
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Platz war. Wir sahen kaum das Spiegelbild von Rosario, die ganz dicht bei dem Typen stand. Dann hörten wir einen Schuss, der uns in Lähmung versetzte und das Schlimmste befürchten ließ. Sie kletterte rasch in den Wagen und knallte die Tür zu.
    »Steig nach hinten, du Idiot!«, befahl sie Emilio, der noch immer vorn saß.
    Sie fuhr mit quietschenden Reifen los und gab noch mehr Gas als bisher.
    »Was ist passiert, mein Liebling, was hast du gemacht?«, fragte Emilio, aber sie antwortete nicht.
    »Hast du die Sache mit ihm geregelt?«, fragte ich sie.
    »Geregelt? Natürlich hab ich sie geregelt«, antwortete sie schließlich.
    »Und wie?«, wollte Emilio ängstlich wissen.
    »Unangemessen«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu uns. Dann machte sie den Mund nicht mehr auf, bis wir angekommen waren.
    In dem Häuschen änderten sich die Verhältnisse nicht wesentlich. Vielleicht wurden sie sogar schlimmer. Kaum waren wir angekommen, packte Rosario Unmengen von Zeug aus, das man seinem Körper einverleiben konnte: Koks, bazuco, Gras und sogar Pillen aus der Apotheke. Sie verteilte sie auf dem Bett und sortierte sie zu Häufchen. Emilio und ich dachten, dass wenn sie dem Typ mit dem Auto wirklich etwas angetan hätte, sie zu fressen anfangen würde, um sich mit dem Dickwerden für das Verbrechen zu bestrafen. Aber nie fragte sie nach etwas Essbarem.
    »Sie hat den Speiseplan geändert«, flüsterte Emilio mir ins Ohr.
    »Vielleicht hat sie dem Mann auch gar nichts getan«, sagte ich. »Sie hat ihn nur erschreckt.«
    Wir erfuhren es nie. In den Tagen, die ich mit ihnen verbrachte, redete Rosario nur wenig, wie sie wenig aß und wenig schlief. Sie hatten auch keinen Sex miteinander, soweit ich das feststellen konnte. Was wir im Übermaß hatten, waren Drogen. Sogar ich überschritt ein erträgliches Maß. Wir wurden zu drei Todeskandidaten, die darum wetteiferten, zuerst draufzugehen, zu drei überdrehten Zombies, und wir verletzten uns gegenseitig mit unserer schneidenden Wut und unserem ätzenden Groll, verwundeten uns mit spitzem Schweigen, blieben mithilfe der Drogen stumm über das, was wir fühlten, schauten uns bloß an und warfen das Zeug ein.
    Dann, ich weiß nicht mehr, wie viel Zeit vergangen war, heulte Rosario, heulte Emilio, und als ich mich nicht mehr zusammenreißen konnte, heulte ich auch, ohne genau zu wissen, warum. Wenn es einen Grund gab, dann könnte man sagen, wegen allem, denn das ist der Moment, in dem einem die Seele birst, dass man weinen muss. Später dann, wann genau, weiß ich nicht mehr, in einem Moment der Klarheit, steckte ich mir den Finger in den Hals und übergab mich.
    Ich ließ sie allein. Einen Monat lang hörte ich nichts von ihnen. Ich hatte keine Ahnung, ob und in welcher Verfassung sie noch in dem Häuschen waren. Ich selbst versuchte mich zu erholen. Meine Familie hatte sich wegen mir in ein Irrenhaus verwandelt, und es wurde noch schlimmer, als sie mich reinkommen sahen. Als sie sahen, wie ich auf die Knie fiel und um Hilfe bettelte. Obwohl sie mich nicht verstanden, dachten sie, dass ich mit den Drogen aufhören wollte, die den Körper und die Venen süchtig machen, und nicht diese andere Droge, die von unten und durch die Augen eindringt, die sich im Herzen einnistet und es zerrüttet, diese verfluchte Droge, die von ganz Naiven Liebe genannt wird, aber die so schädlich und tödlich ist wie die, die man in kleinen Päckchen auf der Straße kriegen kann.
    »Wie wird man das los?«, flehte ich meine Eltern an. Doch die verstanden mich nicht.
    Eines frühen Morgens riefen Emilio und Rosario bei mir an. Sie waren noch immer dort, wo ich sie zurückgelassen hatte, und in der schlimmsten Verfassung. Sie baten mich, zu ihnen raufzukommen, weil sie mich dringend brauchten. Eine Sache auf Leben und Tod. Rosario war es, die redete.
    »Wenn du nicht kommst, sterbe ich«, sagte sie mit einer Stimme, die anders klang als sonst, mit einem verzehrenden, aber vor allem zweideutigen »Ich sterbe«, einem bittenden und befehlenden »Wenn du nicht kommst«. Weiter sagte sie nichts, nur diesen einen Satz. Mehr war nicht nötig, damit ich auf der Stelle bei ihr, bei ihnen war.
    Obwohl ich wusste, dass sie es war, als ich sie sah, entschlüpfte mir ihr Name in Form einer Frage, so als hätte ich sie nie zuvor gesehen.
    »Kumpel«, sagte sie und drückte ihr Gesicht gegen meins, »mein Kumpel, dass du gekommen bist.«
    Emilio begrüßte mich frenetisch. Er umarmte mich und gab mir eine Reihe

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